Martin Luther wandte sich 1520 mit einer Schrift an den Adel und prangerte die mangelnde Wissensvermittlung im Land an. Er schrieb: „Vor allen Dingen sollte in den hohen und niederen Schulen die vornehmste und allermeiste Lektion sein die Heilige Schrift (…). Und wollte Gott, eine jegliche Stadt hätte auch eine Mädchenschule, darinnen täglich die Mägdlein eine Stunde das Evangelium hörten.“
Im Mittelalter hatte nur eine sehr kleine Bevölkerungsschicht Zugang zu Bildung. Vor allem Adelige und Geistliche hatten Zeit und Vermögen, um Schulen und Universitäten zu besuchen. Öffentliche Schulen gab es vor der Reformation, wenn überhaupt, nur in den größeren Städten. Der größte Teil der Bevölkerung konnte nicht lesen und schreiben, auch wenn dies für einige Berufe durch den aufstrebenden Handel immer wichtiger wurde.
Aufwertung der Frauen
Den Theologen und Humanisten an der Wende zum 16. Jahrhundert gelang es, diesen Makel zu beheben. „Die Reformatoren schufen die Grundlage für die Schulen und Universitäten unserer Zeit“, erklärt Christina Schlag, Kuratorin einer Ausstellung zu dem Thema im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Philipps-Universität im Landgrafenschloss in Marburg.
Luther selbst hatte sich in drei programmatischen Schriften mit Bildung befasst. Er forderte vom Adel, den Ratsherren sowie von den Pfarrern und Eltern, dass sie in das Bildungssystem investieren. Neue Schulen, öffentliche Bibliotheken und eine angemessene Bezahlung der Lehrer sollten die Erziehung junger Menschen verbessern. In seiner Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ fordert er, alle Kinder – also Jungen und Mädchen – flächendeckend zu unterrichten.
Alle Menschen sollten sich nach Luthers Willen direkt mit der Bibel befassen können und nicht mehr auf andere Autoritäten angewiesen sein. Mit seinen Forderungen wertete Luther die Rolle der Frauen auf. Schließlich waren sie für die Erziehung der Kinder zuständig und sollten daher auch Zugang zu den biblischen Texten erhalten. Zudem sollten Pastoren und Lehrer besser ausgebildet werden. Damit war programmatisch die Basis für die Schulpflicht gelegt.
In protestantischen Landesteilen wurde sie vielerorts formal bereits seit dem 16. Jahrhundert eingeführt. Zäher verlief es in den katholisch geprägten Herrschaftsbereichen. „Die Forderung nach Bildungseinrichtungen war da, bis zur vollständigen Umsetzung hat es aber noch Jahrhunderte gedauert“, erklärt die Kunsthistorikerin Anne Katharina Wagner. Bis der flächendeckende Schulbesuch, für den die Reformation als Grundstein gilt, umgesetzt war, dauerte es noch bis ins 18. Jahrhundert. Erst seit 1919 schreibt die Weimarer Verfassung die allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland fest.
Kirchliche Lehre versus biblische Aussage
Luther ging es darum, bekannt zu machen, dass es keine Instanz brauche, die zwischen Gott und den Gläubigen vermittelt. Jeder Mensch sollte die Bibel lesen und sich mit den Inhalten des Glaubens auseinandersetzen. Männer und Frauen, Theologen und Laien, Fürsten und Bauern. Durch die Reformation wurde mittelbar die kirchliche Domäne der Bildung durchbrochen und der Zugang dazu für breite Bevölkerungsschichten geschaffen. Dafür war es wichtig, dass die biblischen Schriften in einer für alle verständlichen Sprache vorlagen. Auf Anraten Melanchthons übersetzte Luther deswegen im Herbst 1521 das Neue Testament in nur elf Wochen ins Deutsche.
Für das theologische Studium hielt Luther jedoch Griechisch, Latein und Hebräisch weiter für unabdingbar. Aus Luthers Sicht hatte sich die Kirche zu weit von der Heiligen Schrift entfernt. Nur im Original konnten die akademischen Lehrer die Bedeutung der Texte erfassen und sie von den Interpretationen der Übersetzungen ins Lateinische befreien. Seine Agenda drang somit vom akademischen Lehrbetrieb in den Alltag der Gläubigen.
Der Gottesdienst fand bei den Protestanten in der Landessprache statt. Dadurch konnten die Menschen die biblischen Texte in ihrer Sprache hören und verstehen. Mit den nun für jedermann verständlichen Bibeltexten und den Liedern im Gottesdienst wurde der Glaube lebensnah. Die Gläubigen waren nicht länger nur Zaungäste beim Ritual der Heiligen Messe, sondern konnten sich aktiv am Gottesdienst beteiligen. „Der Gottesdienst war nicht mehr nur die Eucharistie. Es wurde jetzt auch christliches Orientierungswissen vermittelt“, sagt Wagner. 1529 veröffentlichte Luther in zwei Katechismen eine Art Lehrbuch für die Unterweisung in den Grundfragen des christlichen Glaubens, zum einen „für den Unterricht der Kinder und Einfältigen“, und zum anderen für „gemeine Pfarrherrn und Prediger“.
Das erste Gymnasium entsteht
Einen wichtigen Mitstreiter hatte Luther in Philipp Melanchthon. Der Wittenberger Theologe war nicht nur ein Lehrer aus Leidenschaft, sondern er verfasste Grammatiken für den Griechisch- und Lateinunterricht und schrieb Bücher über Ethik, Physik, Geschichte und Geographie. Seine Bücher wurden zu Standardwerken in den Schulen – einige davon sogar im Ausland. Ein „No go“ für ihn war es, ohne die drei alten Sprachen Theologie zu betreiben. Melanchthon kümmerte sich um die Ausbildung zukünftiger Lehrer, gründete Schulen und entwarf Schulordnungen, nach denen unterrichtet werden sollte.
Die Schüler sollten nicht mit zu viel Lernstoff belastet werden. Wer ein definiertes Lernziel erreicht hatte, konnte die nächsthöhere Klasse besuchen. Melanchthon reiste auch für seinen Kurfürsten durch das Land und besuchte Kirchen und Schulen. Bei seinen Visitationen prüfte er die Situation vor Ort und machte Verbesserungsvorschläge. Mit der Oberen Schule St. Egidien in Nürnberg begründete er sogar einen neuen Schultyp, der zur Urform des deutschen Gymnasiums werden sollte. Dieses erste Gymnasium existiert heute noch unter dem Namen Melanchthon-Gymnasium. Bereits zu Lebzeiten nannten ihn die Menschen „Praeceptor Germaniae“ (Lehrer Deutschlands).
Landgraf wird zum interessierten Bibelleser
Luther und Melanchthon fanden in Landgraf Philipp von Hessen einen finanzkräftigen Unterstützer ihrer Ideen und Forderungen. Luther und Philipp waren sich bereits 1521 erstmals auf dem Reichstag in Worms begegnet. Ein Zufall führte den Landgrafen später auf einer Reise mit Melanchthon zusammen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine lebenslange Korrespondenz, in der sich die Visionäre über die wichtigsten Glaubenssätze der Reformation austauschten. „Er wurde zu einem sehr interessierten Bibelleser, der sich begeisterte für Glaubens- und Gewissensfragen“, sagt Wagner.
1524 nahm der hessische Landesfürst den neuen Glauben an und machte sich Luthers Forderungen zu eigen. Sicher auch aus politischem Kalkül, wie Wagner erklärt: „Er hoffte, mit der Errichtung von Schulen Beamte und Pfarrer für sein Landgrafentum auszubilden und seine Macht und Position im Deutschen Reich dadurch zu festigen.“
Für seinen Herrschaftsbereich entwarf Landgraf Philipp ein umfangreiches Bildungsprogramm, das die Wissensvermittlung von der elementaren Schulbildung bis zur Universität umfasste. Um den Fortbestand der neuen Lehre und die eigene Macht zu sichern, gründete Philipp 1527 in Marburg die erste evangelische Universität der Welt, die seit dem frühen 20. Jahrhundert auch seinen Namen trägt.
Von: Norbert Schäfer