„Kaltblütig“ nennt sie ihr Verhalten. Anderen Schmerzen zuzufügen, befriedigt ihre Sucht nach Macht und Adrenalin. Dass ihr Leben außerhalb des Bikermilieus von Angst und Verzweiflung geprägt ist, verdrängt Helma Bielfeldt. Doch mit einem Tag im November 1997 wird alles anders. Die Geschichte einer radikalen Veränderung.
Von PRO
Foto: pro / S. Zacharias
Auf ihrem Motorrad fühlt sich Helma frei. Sie gehört einem christlichen Motorradclub an
Ich koch uns noch schnell ‘nen Kaffee“, tönt es aus der Küche im ersten Stock. Helma Bielfeldt werkelt mit Kaffeepulver und Tassen herum, zwischendurch liest sie Nachrichten auf ihrem Smartphone und versucht, jemanden telefonisch zu erreichen. „Ich muss das hier noch schnell machen“, sagt sie, und aus dem Handy tönt ein Freizeichen. Eigentlich sollte heute ihr Sohn Vincent aus der Schweiz kommen, um sich für eine Lehrstelle bei der Handwerkskammer vorzustellen. Der hat aber verschlafen und den Zug verpasst. Helma – sie möchte geduzt werden – ist in Aufruhr. „Ne! So ein Blödkopp!“, sagt sie liebevoll in ihrem norddeutschen Dialekt.
Helma kommt eigentlich aus Dithmarschen, einer Region in Nordfriesland. Zusammen mit drei älteren Schwestern wächst sie in den 60ern in einem kleinen Dorf auf. So idyllisch wie das Leben in dem Örtchen mit den reetgedeckten Häusern sein könnte, so anders geht es bei Helma zu Hause zu. Ihrer Mutter rutscht nicht selten die Hand aus, der Vater – von Beruf Schreiner – verkriecht sich in seiner Werkstatt und hält sich aus allem raus. „Die Schläge sind täglich gefallen“, sagt Helma. Ihre sonst so fröhliche Stimme wird härter, als sie von ihrer Mutter spricht. Nur widerwillig erinnert sie sich daran. Liebe oder Geborgenheit waren für die kleine Helma Fremdwörter. Immer auf der Hut sei sie vor ihrer Mutter gewesen. Deren Gesten habe sie beobachtet, um den Schlägen zu entgehen. Dafür, dass ihre Mutter sie augenscheinlich nicht liebt, gibt Helma sich selbst die Schuld. „Da kommt das Gör, das ein Junge werden sollte“, wird sie oft vorgestellt. Helma fühlt sich wertlos. Die Bemühungen um Liebe und Anerkennung der Mutter sind zwecklos. Stattdessen wird sie regelmäßig zu Unrecht bestraft. „Das Schlimmste war die Hilflosigkeit, die man als Kind hatte“, sagt Helma heute. Sie versteht im Nachhinein nicht, warum sie „alles für sich abgemacht“ hat, mit niemandem über die Erlebnisse zu Hause geredet hat.
Auch mit ihren Schwestern kann sie das Erlebte kaum teilen, leiden die doch selten unter den Wutausbrüchen der Mutter. Einzige Bezugsperson ist ihre Großmutter, mit der sie ein Zimmer teilt. „Gott liebt dich, und er weiß genau, wie viel Last du tragen kannst“, sagt die zu ihr, wenn Helma besonders leidet. Die Großmutter ist gläubig. Abends betet sie mit Helma, liest ihr Bibelgeschichten vor. Doch dass Jesus ihr helfen würde, glaubt Helma damals nicht. „Ich war der Revoluzzer“, beschreibt die 52-Jährige sich und sieht auch darin einen Grund, warum sie immer mehr abbekam als die anderen. Bis heute hat sie keinen Kontakt zur Mutter. Nachdenklich dreht Helma an einem Ring an der linken Hand, der die Form einer Krone hat. Ihre langen grauen Locken fallen ihr ins Gesicht.
Königinnen der Straße
Anerkennung und Liebe findet Helma im Bikermilieu. Für Mofas und Motorräder interessiert sie sich schon als Teenager. Heimlich bringt sie sich auf dem Mofa ihrer Schwester das Fahren bei. Ein Nachbarsjunge nimmt sie mit zu Bikertreffen. Helma findet Zutritt zu einer anderen Welt. Für sie ist es ein Zufluchtsort: „Das war meine Familie. Es gab keine Schläge. Und man war da wer.“ Zwischen „Benzingesprächen“ am Lagerfeuer, lauter Musik, Alkohol und Motorrädern fühlt sich die junge Frau wohl. „Man musste keine Schminke kaufen, die Klamotten waren immer dieselben. Man musste keinem Idol hinterherlaufen“, erinnert sie sich. Und man wird dreckig. Das ist cool. Schlammschlachten und Machtkämpfe unter den Bikern genießt sie wie keine Zweite. Mit 18 Jahren kauft sie ihr erstes Moped – eine Honda MB8.
Helma ist damals ein harter Typ. Kräftig gebaut, wie sie ist, und mit lautem Mundwerk kann sie sich in der Männerdomäne behaupten. Endlich ist sie nicht mehr diejenige, die einsteckt, wenn es zwischen verfeindeten Motorradclubs zum Kampf kommt. Sie teilt aus. „Ich genoss es, wenn andere Schmerzen hatten“, sagt sie. Und: „Man hat dann Macht über ein Opfer.“ Das Adrenalin und die Anerkennung, die sie spürt, wenn sie ohne Skrupel zuschlägt, befriedigen sie „unheimlich“. Wenn sie davon erzählt, fällt Helma noch stärker in ihre norddeutsche Ausdrucksweise zurück. Die Worte, die sie wählt, sind knapp, klingen hart. Sie sagt: „Jeder Schlag, den ich versetzt habe, war auch gegen meine Mutter. Jeden Schlag, den sie mir zuviel gegeben hat, habe ich weitergegeben.“ Auf dem Gipfel der Macht fühlt sie sich, als sie ihren eigenen Frauen-Motorradclub gründet. „Queens of the Road“ – Königinnen der Straße – nennen sie sich. Als Präsidentin verteidigt Helma „ihre“ Mädels gegenüber anderen Bikern bis aufs Blut. Sie erkämpft sich Respekt. Niemand legt sich so schnell mit ihr an. „Kaltblütig“, nennt Helma ihr damaliges Verhalten heute.
In ihrem Privatleben hat sie die Dinge jedoch kaum unter Kontrolle. Helma blickt heute auf zwei geschiedene Ehen zurück. Beide Male kämpft sie gegen die Eifersucht und den Kontrollzwang der Männer. Ihr erster Mann wird gewalttätig. Vor dem zweiten flieht sie aus ihrem Heimatort nach Kiel. Halt findet sie nur in ihrem Club und unter anderen Bikern. Doch das Doppelleben zehrt an ihr. Oft braucht Helma mehrere Tage, um sich von Saufgelagen und Prügeleien der Bikertreffen an den Wochenenden zu erholen. Trotzdem zieht es sie jedes Mal wieder dorthin.
Immer Angst
Noch etwas anderes macht ihr zu schaffen: Ihre tote Schwester Ingrid erscheint ihr regelmäßig. Ingrid war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Da wohnte Helma noch zu Hause. Obwohl das Verhältnis der vier Schwestern nicht besonders gut war – mit Ingrid verband Helma etwas. „Ich hab den Boden unter den Füßen verloren“, erinnert sich Helma an die Zeit nach dem Unfall. Dass sie in eine Spirale aus Gewalt, Drogen und Alkohol abrutschte, liege wohl an diesem Erlebnis, meint sie. Hinter der randlosen Brille glitzert es in Helmas Augen. Jahrelang sieht Helma ihre tote Schwester bei Motorradunfällen oder in gefährlichen Situationen auf einmal neben sich stehen. „Sie hat nichts gesagt, sondern mir nur die Hand gereicht“, sagt sie. Gänsehaut macht sich breit.
Helma spricht leiser. Sie habe damals immer Angst gehabt. Viel Angst. Und sie sagt, Ingrid habe wie ihre Mutter weiße Magie betrieben. Sie selbst, Helma, habe für eine kurze Zeit nach dem Tod der Schwester Pendeln und Tischerücken praktiziert. Auf dem Friedhof habe sie die Leute dafür kennengelernt. Wie genau, daran kann sie sich nicht erinnern. 15 Jahre alt war sie damals.
Erst mit der Geburt ihrer Tochter Dorothy verändert sich Helma. Dorothy war ein Wunschkind. „Sie gab mir den ganzen Halt für alles, was bei mir kaputt war. Sie war so süß. So knuddelig“, schwärmt sie. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht. Lachfalten zieren ihre Augenwinkel, als sie von ihrem „Lila-Trip“ erzählt – die Kleine war fast immer lila gekleidet –, von den dichten schwarzen Haaren des Babys schwärmt und davon, wie es die Herzen der anderen Biker im Sturm eroberte. Alkohol und Zigaretten sind in Gegenwart der Kleinen ab sofort tabu, setzt sie unter den Freunden durch. Die Tochter gibt ihrem Leben Sinn. Helma entdeckt eine nicht gekannte, weiche Seite an sich. Doch der Vater des Kindes, es ist ihr zweiter Ehemann, geht auf Abstand: Einen Jungen hatte er sich gewünscht. Er nimmt Dorothy nicht einmal in den Arm. Auch das zweite Kind, Vincent, nimmt er nicht an, weil der rote Haare hat. „Mein Exmann hat gesagt, das wäre nicht seiner“, sagt Helma. Sie hat heute keinen Kontakt mehr zu ihm.
Ihr Handy klingelt. Vincent ist dran. Es klappt wohl doch noch mit der Lehrstelle, trotz des verpassten Vorstellungstermins. Helma atmet auf und sagt lachend: „So ist Helma. Hier ist immer was los.“ Vincent ist ihr Sorgenkind. Drogen und Beschaffungskriminalität hat er hinter sich. Aber jetzt ist Helma optimistisch. Er sei auf einem guten Weg.
Henning
Heute ist Helma glücklich. Das hat damit zu tun, dass sie nun eine erfüllte Ehe hat, ein geregeltes Leben in einem kleinen Ort in der Pfalz führt und neben den zwei eigenen auch noch drei Pflegekinder hat, die sie liebt. „Meine kleine Maus“, nennt sie die Jüngste. Neun Jahre ist Jacqueline alt und seit einem Dreivierteljahr bei Helma und ihrem Mann Henning. Sarah kam als Baby zu dem Paar. Jetzt ist sie 14 und für die beiden wie eine eigene Tochter. Selina, 17 Jahre, lebt erst seit letztem Jahr bei den Bielfeldts. Aber besonders glücklich ist Helma, weil „ich eine Person gefunden habe, die mich durch und durch liebt“. Sie meint Jesus. Der trat zusammen mit Henning in ihr Leben.
Henning lernt sie durch ihre Bikerfreunde kennen. Er sei schon immer anders gewesen, nicht nur, weil er ein schickes Auto gefahren habe. Er sagt damals zu Helma: „Mein Hobby ist Jesus.“ Das findet Helma komisch. Auf seinem Auto hat Henning einen großen roten Fisch kleben. Sie habe sich gedacht, er müsse wohl beim Unternehmen „Fischer-Dübel“ arbeiten, die hätten das ja als Firmensymbol, erzählt die 52-Jährige und lacht aus voller Kehle. Es ist ein lautes und herzliches, etwas heiseres Lachen.
Trotz der anfänglichen Abneigung interessiert sie sich für Henning. Vom Vater ihrer Kinder ist Helma zu der Zeit schon getrennt. Dorothy und Vincent sind von Henning begeistert und er von ihnen – ein Grund, warum sich eine Beziehung entwickelt. Henning arbeitet in der Pfalz. Monatelang führen die beiden eine Fernbeziehung. Fast jedes Wochenende fährt er nach Kiel. 740 Kilometer pro Strecke.
Ein Tag im November
Eines Tages entdeckt Helma ein buntes Buch in Hennings Regal. Sie schlägt es auf, fängt an zu lesen: Die biblische Geschichte von Lazarus. Helma ist überrascht. Die Geschichte kennt sie von ihrer Oma. „In dem Moment fing ein Kampf in mir an“, sagt sie. Sie sieht ihr Leben aus Gewalt, Alkohol, Okkultismus und Leere an sich vorbeiziehen. „Eine laute, harte Stimme in meinem Innern sagte mir: ‚Du bist nichts wert. Du bist Dreck.‘“ Abgrundtiefe Verzweiflung und Selbstmordgedanken überkommen sie. „Aber es gab eine andere Stimme. Die war viel leiser, beruhigend und liebenswert.“ Und sie spürt die Anwesenheit einer Person im Raum. Sehen kann Helma sie nicht. Nur das Stück eines roten Mantels blitzt in einer Ecke auf. Den sieht sie manchmal heute noch. Helma ist überwältigt. „Der hat mir so viel Liebe gegeben. Für mich war das Jesus. Ich hab Rotz und Wasser geheult und hatte Gänsehaut. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich geliebt und geborgen gefühlt.“ Den Tag, an dem sie ihr Leben Jesus gab, wird sie nie vergessen. Es war der 7. November 1997.
Sie sagt, seit diesem Tag kann sie aus vollem Herzen lachen. Und: „Diese Freude, die hab ich beibehalten.“ Helma macht sich keine Sorgen um die Zukunft: „Du kannst alles Jesus geben und der macht das Beste draus.“ Sie glaubt, es hat mit ihrer Oma zu tun, dass sie zum Glauben fand. „Ich höre immer wieder aus dem Rockermilieu, dass es die Omas waren, die gebetet haben.“ Helmas Leidenschaft ist immer noch das Motorradfahren. Aber jetzt ist sie mit ihrem Mann bei den Holy Riders, einem christlichen Club. Das Fahren bedeutet für sie Freiheit und Abschalten. „Und weil ich ja das Couleur (Abzeichen, Anm. d. Red.) von den Holy Riders drauf habe, werde ich auch angesprochen. Das find ich toll“, sagt sie. Die Holy Riders haben klar erkennbar ein Kreuz im Abzeichen.
„So ist Helma“
Auf Helmas dunkelblauem Kapuzenpullover steht: „Jesus Christus – Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Hinter ihr an dem alten Wohnzimmerschrank hängen Bilder und Poster mit Bibelzitaten. Sie stecken zwischen unzähligen Familienfotos und selbstgemalten Kinderbildern – so wie überall in dem verwinkelten Haus, das eine gemütliche Unordnung ausstrahlt. Auf dem alten Esstisch vor der Küche liegen zwei Bibeln neben etwas Tischdekoration herum. Ihre Kinder sind beide vom Glauben „weggerutscht“. Dorothy, die mit Mitte zwanzig gerade in Berlin lebt und eine Ausbildung zur Fotografin macht, rede zwar mit ihr, „aber sie kommt ungern her“, sagt Helma traurig.
Für seine Kinder muss man beten, findet sie. Alle Mütter sollten das tun. Helma hat die Arbeit mit Kindern für sich entdeckt. Lange Zeit hat sie in einer nahegelegenen Grundschule morgens biblische Geschichten vorgelesen. Neulich traf sie ein kleines Mädchen, das sich daran erinnerte und fragte: „Kommst du nicht bald wieder? Die Geschichten sind immer so schön.“ Lernpatin war sie auch schon. Aber jetzt muss sich Helma morgens um ihre Neunjährige kümmern. Deshalb will sie nun mit anderen Frauen in der Kirche im Ort Kinderstunden anbieten.
Ihr Fuß spielt unruhig mit dem linken Pantoffel, die Kaffeetasse dreht sie in der Hand. „So ist Helma. Ich hab ganz viele Projekte im Kopf“, sagt sie lächelnd und schaut auf ihr Handy, das wieder klingelt. (pro)
Lesen Sie den Artikel auch in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro, Ausgabe 3/2015.
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