Bielefeldt: „Die Würde des Menschen ist unauslotbar“

Die UN-Menschenrechtscharta schützt in 30 Artikeln die Würde sowie grundlegende Rechte und Freiheiten aller Menschen. Der Menschenrechtler Heiner Bielefeldt erklärt, warum der Begriff der Menschenwürde schwer zu fassen ist.
Von Norbert Schäfer
Heiner Bielefeldt

Artikel 1
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Herr Bielefeldt, am 10. Dezember wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 75 Jahre alt. Was gab den Anlass für die Resolution und welche Intention verfolgt sie?

Heiner Bielefeldt: Die Erklärung ist geprägt durch die unmittelbare Nachkriegszeit und die Hoffnung, dass die Menschheit aus den traumatisierenden Verwerfungen des Kriegs, des Staatstotalitarismus und vor allem des Nazi-Terrors lernen würde. Angesichts der ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen meldet sich hier ein „Menschheitsgewissen“, wie es in der Erklärung ausdrücklich heißt. Die Präambel der Resolution spricht im zweiten Satz von „Akten der Barbarei“ und meint damit den Nationalsozialismus, aber auch andere Formen von „Mega Crimes“. Man hoffte, dass die Menschheit unter dem Schock solcher Erfahrungen in der UNO zusammenfinden würde. Die Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Vollversammlung 1948 sollte so eine neue verbindliche Grundlage schaffen: für internationale Kooperation, internationale Politik und internationales Recht. 75 Jahre später wissen wir, wie schwierig das alles nach wie vor ist. Man kann leider nicht feststellen, dass die Idee realisiert worden wäre, aber man kann sicherlich auch nicht sagen, dass sie ihren Sinn verloren hätte.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist als Resolution verfasst – also eine Willensäußerung – zu der sich die UN-Mitgliedstaaten bekennen. Ist sie auch rechtlich bindend ober doch nur eine Sammlung schöner Worte?

Da die Resolution in vielen späteren rechtsverbindlichen Dokumenten aufgenommen und bekräftigt worden ist, kann man dem Dokument durchaus auch eine gewisse rechtliche Verbindlichkeit zusprechen. Die Erklärung der Menschenrechte ist aber zunächst als eine politische Willenserklärung gefasst. Ihre Substanz wurde später dann in juristisch verbindliche Standards überführt, die sehr viel detaillierter formuliert sind. Auf diese Weise ist in den Jahrzehnten nach der AEMR eine ganze Serie völkerrechtlich verbindlicher Konventionen hervorgegangen. Die AEMR steht somit am Anfang eines Prozesses, der im Laufe der Jahre zu konkreten rechtsverbindlichen Standards geführt hat. Die Erklärung hatte zudem Auswirkungen auf die nationale Rechtsprechung. Manche Länder haben sie sogar in ihre Verfassung aufgenommen. Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat einige Formulierungen direkt von der AEMR übernommen.

Im christlichen Menschenbild wird die Würde des Menschen begründet aus der Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott. Worauf stützt sich der Begriff der Würde in den AEMR?

Sie finden in UN-Dokumenten keine inhaltliche Definition dessen, was mit dem Begriff der Würde vollumfänglich gemeint sein soll. Stattdessen werden praktische Konsequenzen aus dem Respekt der Menschenwürde gezogenen, wie beispielsweise die Ächtung von Folter oder Rassismus. Man hat also nicht den Versuch unternommen, auf einer Grundsatzebene den Begriff der Würde festzulegen, sondern hat sich auf die praktischen Konsequenzen konzentriert. Zum Beispiel ist die Diskriminierung von behinderten Menschen mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Folter, grausame Formen der Vernachlässigung von Menschen in Altenheimen natürlich ebenfalls nicht. Der erste Artikel der AEMR – der viel zitiert wird – besagt, dass „alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind“. Daran anschließend wird der Gedanke der Vernunft und des Gewissens eingeführt. „Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“, lautet es da. Es geht also darum, den Menschen als Subjekt von Verantwortung zu respektieren. Der Mensch darf nie als bloßes Objekt behandelt werden, sondern er ist eben immer auch Subjekt. Die Menschenwürde hat entscheidend mit der Subjektqualität des Menschen zu tun.

Die Würde eines Menschen ist unantastbar, unveräußerlich, unaufgebbar – und sie ist darüber hinaus auch inhaltlich unauslotbar. Alle diese Adjektive beginnen mit der negativen Vorsilbe: „un“. Es ist in der Tat so, dass wir uns über die Menschenwürde leichter verständigen können, wenn wir über Verletzungsphänomene sprechen, die es zurückzuweisen gilt. Was die Menschenwürde positiv genau bedeutet, lässt sich weniger leicht sagen, und vor allem dürfte es viel schwieriger sein, diesbezügliche Konsense zu erreichen. Ich glaube, es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Menschenwürde abschließend nie vollständig definieren lässt.

„Die Würde eines Menschen ist unantastbar, unveräußerlich, unaufgebbar – und sie ist unauslotbar.“

Ins Grundgesetz wurde bewusst ein religiöser, christlicher Bezug in der Präambel aufgenommen. Warum nicht bei der UN-Menschenrechtscharta?

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat sich jeden direkten religiösen Bezug geradezu verbeten. Es gab durchaus Überlegungen, eine Art Gottesbezug in die Erklärung aufzunehmen. Die sind aber sehr eindeutig gescheitert, und zwar mit dem Hinweis, dass das die Rezeption der Erklärung erschwert, weshalb darauf verzichtet wurde. Im Ergebnis weist die AEMR eine durchgängig säkulare Rechtssprache auf. Das schließt natürlich nicht aus, dass sich Menschen aus genuin religiösen Motivationen, einschließlich christlicher Motive, den Menschenrechten widmen können. Das Dokument ist vor allem deshalb bewusst säkular formuliert, um für verschiedene religiöse und nichtreligiöse Perspektiven anschlussfähig zu sein, ohne bestimmte Deutungsmonopole zu etablieren. Bei denen, die damals mitgewirkt haben, sei es direkt als Diplomaten oder indirekt über NGOs, waren selbstverständlich auch Menschen mit christlichen Überzeugungen. Aber eine solche Überzeugung kann man nicht als verbindliche Grundlage in einem UN-Dokument festschreiben.

Artikel 18 der AEMR garantiert die Gewissens- und Religionsfreiheit. Sind die Religionsgemeinschaften bei der Durchsetzung der Menschenrechte in der Verantwortung?

Diese Verantwortung gibt es, aber sie ist nicht primär rechtlich, sondern vor allem ethisch zu verstehen. Die Menschenrechte adressieren nämlich zunächst den Staat, der sie zu respektieren und zugleich aktiv zur Geltung zu bringen hat. Der Staat kann die Religionsgemeinschaften dann aktiv in die Pflicht nehmen – etwa dergestalt, dass er sie zur Gewaltfreiheit in den internen Verhältnissen vergattert, gerade auch im Umgang mit internen Dissidenten, Kritikern oder Menschen, die die Gemeinschaft verlassen wollen. Der Staat könnte jedoch beispielsweise nicht das Priestertum der Frau für die katholische Kirche durchsetzen. Entsprechende Forderungen gibt es ja seit langem, aber es ist nicht Aufgabe des Staates, dies umzusetzen. An ein solches Thema muss man anders rangehen. Die Kirchen verstehen sich mittlerweile ja selbst als Menschenrechts-Akteure, haben jedoch bei Themen wie der Geschlechtergerechtigkeit oft ein Glaubwürdigkeitsproblem. Hier zeigt sich, dass eine Religionsgemeinschaft, die sich selber im menschenrechtlichen Kontext verortet, damit bestimmte Konsequenzen in Kauf nimmt, die durchaus auch das eigene Selbstverständnis tangieren. Die katholische Kirche hat daran gerade besonders viel zu knabbern.

Warum hatte der Vatikan lange seine Schwierigkeiten mit der AEMR?

Der Vatikan hat auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil seinen Frieden mit den Menschenrechten gemacht. Interessanterweise war bis dahin vor allem die Religionsfreiheit der Stolperstein. Mit der Religionsfreiheit wird die religiöse Dimension menschlicher Existenz ernst genommen, deshalb ist sie als Menschenrecht wichtig. Aber man hat die Religionsfreiheit traditionell deshalb gefürchtet, weil damit Fragen von Religion, von Glauben, von Seligkeit und von Wahrheit scheinbar ganz ins Belieben der Menschen gestellt werden. Man sah darin eine Kultur des Relativismus. Das war für die katholische Kirche lange nicht akzeptabel. Übrigens haben bis heute religiös Konservative fundamentale Bedenken gegen das Konzept der Religionsfreiheit.

„Mit der Religionsfreiheit wird die religiöse Dimension menschlicher Existenz ernst genommen, deshalb ist sie als Menschenrecht wichtig.“

Wir debattieren in Deutschland über das Prostituiertenschutzgesetz und die mögliche Einführung des nordischen Modells. Wie ist Prostitution aus Sicht der Menschenrechte zu beurteilen?

Man kann klar sagen, dass mit dem Begriff der „unveräußerlichen“ Rechte so etwas wie ein Selbstverkauf in die Sklaverei ausgeschlossen ist. Dafür steht dieser historische Begriff der „Unveräußerlichkeit“. Es kann nicht sein, dass sich ein Mensch in einem privatrechtlichen Vertrag einem Herrn unterwirft und sich damit selbst seiner Subjektqualität entledigt. Was aus dieser Denkfigur für die Prostitution folgt, ist aber umstritten. Die eine Lesart besagt: Prostitution geschieht per Definition unter Zwang – auch strukturellem oder finanziellem Zwang – und sie ist damit in jedem Fall ein Verstoß gegen Menschenrechte. Eine andere Position lautet: Solange Frau oder Mann wirklich aus freien Stücken entscheiden kann, muss manches möglich sein, auch dann wenn man es moralisch problematisch findet. Es gibt in jedem Fall zumindest starke Anfragen an Prostitution von den Menschenrechten her. Ob Prostitution per se eine Menschenrechtsverletzung darstellt, bleibt aber umstritten. Im Falle von Zwangsprostitution ist eine Menschenrechtsverletzung natürlich klar gegeben.

Die Menschheit steht vor Umwälzungen durch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und den Klimawandel. Die Prozesse betreffen und bedrohen einen Großteil der Menschheit. Müssen wir die Menschenrechte anpassen oder erweitern?

Das haben wir im Grunde immer schon getan. Auf nationaler Ebene war das Bundesverfassungsgericht womöglich die erste Gerichtsinstanz weltweit, die so etwas wie eine informationelle Selbstbestimmung postuliert hat. Das war 1983 und Auslöser war damals die Volkszählung. Auf internationaler Ebene wurden Schritte unternommen, um digitale Rechte und Privatsphäre zu schützen. Deutschland war eine der treibenden Kräfte dafür, einen UN-Sonderberichterstatter für digitale Rechte zu etablieren. Auf EU-Ebene gibt es bekanntlich gesetzliche Regelungen für die Internetgiganten. Das zeigt, dass die Herausforderung jedenfalls angenommen wird.

Auch die Diskussionen über ökologische Dimensionen von Menschenrechten finden international längst statt, etwa in der UNO oder in der EU. Die UNO hat vor einigen Jahren eine eigene Berichterstattung über Menschenrechte und Klimaschutz gestartet. In Deutschland wies das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 2021 darauf hin, dass Klimaschutz eine Freiheitsdimension für nachfolgende Generationen beinhaltet. Die Menschenrechte haben also solche neue Herausforderungen durchaus aufgenommen. Dass durch die genannten Entwicklungen Menschenwürde und Menschenrechte ernsthaft gefährdet sind, ist völlig klar.

Vielen Dank für das Gespräch!

Heiner Bielefeldt ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von Juni 2010 bis Oktober 2016 war er der Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats.

Am 10. Dezember 1948 hat die Generalversammlung der „Vereinten Nationen“ (UN) die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verabschiedet. Die 30 Artikel schützen grundlegende Rechte und Freiheiten aller Menschen. Die UN-Menschenrechtscharta beinhalten das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, Meinungsfreiheit, Schutz vor Diskriminierung und Folter, betont die Gleichheit und Unantastbarkeit der Menschenwürde, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion oder sozialer Herkunft und fordert Recht auf Bildung, Arbeit und Beteiligung am kulturellen Leben. Die Erklärung gilt als das Leitprinzip für den Schutz und die Förderung grundlegender Menschenrechte weltweit.

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