„Biblisch wählen heißt manchmal, nicht zu wählen“

Ein amerikanischer christlicher Politikwissenschaftler fragt sich, was zu tun ist, wenn keiner der US-Präsidentschaftskandidaten seine Werte vertritt. Nicht einmal annähernd.
Von PRO

„Wählt biblisch!“ Zumindest hier in Michigan ist es unmöglich, die Schilder zu übersehen. Unter evangelikalen Christen scheinen sie so allgegenwärtig zu sein wie der Aufkleber mit dem Ichthus-Fisch.

Ich kann das gut verstehen. Mein ganzes Leben lang habe ich evangelikale Kirchen besucht, sie sind von jeher mein Zuhause. Ich bin mit der Botschaft von „God, country, and family“ („Gott, Land und Familie“) aufgewachsen. Und ich war immer konservativ, sowohl theologisch als auch politisch. Bei den meisten Wahlen stimmte ich direkt für die Republikaner, und Wählen ist für mich sehr wichtig.

Gerade weil Wählen so wichtig ist, glaube ich, dass wir die Aufforderungen zur Stimmabgabe biblisch bewerten müssen. Und dass wir das aus allen möglichen Perspektiven betrachten müssen. Denn manchmal kann es angesichts der kurzfristigen politischen Dynamik oder der Kandidatenauswahl auch der beste Weg sein, nicht zu wählen, wenn wir damit unsere Werte ausdrücken und die Bedeutung einer Wahl anerkennen wollen. Manchmal kann die richtige Entscheidung – und eine Möglichkeit, unsere Politik mit der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen – darin bestehen, nicht zur Wahl zu gehen. Neue Untersuchungen zeigen, dass Millionen amerikanischer Christen genau das in diesem Herbst planen.

Wählen – eine christliche Pflicht?

In vielen überwiegend weißen evangelikalen Kirchen der USA werden vor allem zwei Botschaften über das Wählen vermittelt: In der jüngeren Geschichte wurde man dort kaum verhohlen dazu ermutigt, die Republikaner zu wählen. Aber es gibt auch die Ansicht, dass man wählen muss, dass Wählen eine amerikanische Pflicht – und vielleicht sogar eine christliche Pflicht ist. Schauen wir auf die zweite Behauptung.

Es gibt keinen biblischen Auftrag zum Wählen. Damit will ich nicht sagen, dass Wählen irgendwie mit der biblischen Lehre unvereinbar ist. Gott bewahre! Die Teilnahme an demokratischen Wahlen und ganz allgemein die friedliche Beteiligung am öffentlichen Leben steht im Einklang mit praktisch jeder Auslegung der Bibel.

Das Problem ist, dass sich viele Wähler unter Druck gesetzt fühlen. Es ist nicht immer glasklar, wie wir wählen sollen. Manchmal stimmt keiner der infrage kommenden Kandidaten mit unseren Grundwerten überein – oder kommt ihnen auch nur nahe. In diesem Jahr vertritt die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten Positionen, die meiner Meinung nach mit der Heiligen Schrift unvereinbar sind. Aber ich glaube auch, dass der republikanische Kandidat nicht den nötigen Charakter hat, um Präsident zu werden.

Wieviel zählt der Charakter?

Einige Christen entscheiden sich angesichts dessen dafür, einem dritten Kandidaten ihre Stimme zu geben. Ich respektiere diese Entscheidung und stimme zu, dass es viel wichtiger ist, für den Kandidaten zu stimmen, der unsere Werte am besten vertritt, als für jemanden zu stimmen, nur weil er realistische Wahlchancen hat. Themen und Charakter sind wichtig. Aber ich verstehe auch die politischen und rechtlichen Gegebenheiten in Amerika, die es Kandidaten von Drittparteien praktisch unmöglich machen, erfolgreich zu sein. Anstatt eine dritte Partei zu wählen, entscheide ich mich daher, nicht zu wählen.

Die Entscheidung, keinem Kandidaten die Stimme zu geben, sehen viele von jeher kritisch. Aber in diesem Jahr scheint sie besonders unpopulär zu sein. In den letzten Wochen bin ich vor allem auf zwei Einwände gegen meine Entscheidung gestoßen.

Der erste ist, dass wir uns unser Leben lang für unvollkommene Optionen entscheiden müssen. So ist das Leben. Bei der Wahl, wie bei allem anderen auch, müssen wir uns mit Unvollkommenheit abfinden und die bestmögliche Wahl unter den gegebenen Möglichkeiten treffen, auch wenn diese Möglichkeiten suboptimal sind. Diese Idee gilt sogar für Entscheidungen, die weitaus mehr persönliche Konsequenzen haben als eine politische Wahl. Wir wählen zum Beispiel unvollkommene Ehepartner und unvollkommene Kirchen. Geschenkt.

Aber diese Analogien sind weniger überzeugend, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Keine der beiden Entscheidungen ist ähnlich binär, und keine der beiden beginnt mit einem sehr kleinen Pool von Optionen, aus denen wir auswählen müssen. Bei der Wahl eines Ehepartners sind wir aktiv an der Auswahl des Kandidatenpools beteiligt – und die Entscheidung, nicht zu heiraten, ist eine Entscheidung, die die Bibel befürwortet (1. Korinther 7,39-40).

Auch bei der Wahl einer Kirche haben wir in der Regel nicht nur zwei, sondern viele Möglichkeiten zur Auswahl. Wenn der Vergleich dennoch überzeugend erscheint, lassen Sie uns die Analogie erweitern:
Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich als konservativer Evangelikaler entscheiden zwischen zwei Kirchen: Die eine lehnt es ab, dass Jesus Christus Gott ist, sie vertritt aber eine traditionelle Auffassung zu Fragen von Sex und Gender. Die andere Kirche bejaht die Gottheit Christi, ist aber in Fragen von Sex und Gender liberal. Vielleicht eine Gemeinde der „Heiligen der letzten Tage“ gegen eine sehr progressive evangelische Kirche. In einer solchen Zwickmühle beginnen viele meiner konservativen evangelikalen Mitstreiter zu erkennen, dass es sinnvoll ist, nicht zu wählen, während wir versuchen, wenn auch nur zögerlich, „an dem festzuhalten, was gut ist“ (Römer 12,9).

Der zweite Einwand lautet, dass bei einer Wahl allein politische Fragen den Ausschlag geben sollten: Bei einer Wahl geht es um politische Ergebnisse, und es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man sich über weniger wichtige Aspekte wie den Charakter eines Politikers Gedanken machen könnte. Gott setzt unvollkommene Menschen ein, um seine guten Ziele zu erreichen, und sicherlich sollten wir die Messlatte nicht höher anlegen, als Gott das tut.

Als Politikwissenschaftler stimme ich zu, dass es bei Wahlen um politische Ergebnisse geht. Aber als Christ bin ich nicht der Meinung, dass es nur um politische Ergebnisse geht.

Ja, Gott setzt unvollkommene Menschen ein. Aber natürlich hat er keine Wahl – „Es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen“ (Römer 3,10) – und Gott lehnt einige Menschen aufgrund ihres schlechten Charakters für bestimmte Aufgaben ab, insbesondere für mächtige Aufgaben. (Ich denke da an König Saul.) Außerdem verfügt Gott über Wissen, Freiheit und Liebe, die ich nicht habe. Dass er allwissend unvollkommene Menschen für sein Erlösungswerk einsetzt, ist kaum damit vergleichbar, dass ich wider besseres Wissen für einen zutiefst problematischen Kandidaten stimme.

Und ja, die Themen sind wichtig. In den nächsten vier Jahren werden viele Bundesrichter und vielleicht einige Richter des Obersten Gerichtshofs ernannt werden. Wirtschaftspolitische Entscheidungen könnten große Auswirkungen auf unser tägliches Leben haben. Bei der Abtreibungspolitik, der Außenpolitik und der Einwanderung geht es um Leben und Tod. Auch das ist natürlich richtig.

Dem Gewissen folgen

Aber ich glaube, dass der Weg zum Ziel genauso wichtig ist wie das Ziel selbst. „Die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, ist lebenswichtig“, schrieb James Dobson 2007, „aber nicht auf Kosten dessen, was uns am meisten am Herzen liegt.“ Ich bin davon überzeugt, dass auch der Charakter ein zentraler Wert ist. Er gehört ebenfalls zu dem, was mir in der Politik „am Herzen liegt“ – und ist nicht so sehr von der Politik zu trennen, wie viele meinen. Ohne einen guten Charakter könnten die von uns unterstützten Kandidaten vielleicht gar nicht erst versuchen, die politischen Ergebnisse zu erzielen, die sie uns vor der Wahl versprechen.

Ich verstehe die Argumente für eine Stimmabgabe, selbst wenn die zur Wahl stehenden Kandidaten schlecht sind. Ich verstehe, warum manche Christen glauben, dass es besser ist, sich für eine Seite zu entscheiden und diese zu unterstützen, verbunden mit dem Versuch, das Beste daraus zu machen. Ich möchte dafür argumentieren, dass alle Christen sich gegen das Wählen entscheiden sollten. Denn ist es nicht demütiger, sich bei einer Wahl mit genau zwei Wahlmöglichkeiten wie diese es ist, für das Nichtwählen zu entscheiden? Es könnte für viele Christen der beste Weg sein, um ihrem Gewissen und den Eingebungen des Heiligen Geistes gerecht zu werden. Es könnte der beste Weg sein, um „biblisch zu wählen“.

Von: Robert Postic, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Findlay im US-Bundesstaat Ohio. Sein Text erschien zuerst im amerikanischen Magazin „Christianity Today“.

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