Betende Grenzgänger

Laufen und beten, fünf Wochen lang: Zwei Pilgergruppen wandern derzeit an der ehemaligen innerdeutschen Grenze entlang und beten für das Land. pro-Redakteur Jonathan Steinert hat sie einen Tag lang begleitet.
Von PRO
Seit dem 3. Oktober sind zwei Pilgergruppen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze unterwegs und beten für das Land. Am 8. November treffen sie sich im Harz
Wolkendecken verhängen den Morgenhimmel. Milchig sehen sie aus, wo sich die Sonne über Römhild hinter ihnen verbirgt. Etwa 25 Pilger haben in der Thüringer Kleinstadt die vergangene Nacht verbracht. Einige sind am Morgen neu zur Gruppe dazugestoßen, andere sind schon mehrere Tage gemeinsam unterwegs. Vor dem Start hat der Tagesleiter Martin eine Andacht in der Kirche gehalten. Jetzt laufen sie paarweise auf dem Kolonnenweg der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung. Das sind nebeneinander verlegte Betonplatten, die längs einer Wiesenfläche einst die Fahrspur für Grenzfahrzeuge bildeten. Dazwischen wuchert Gras. Hier und da stehen Pilze. Der Wehrgraben, der parallel zum Weg verläuft, könnte ein ganz normaler Sraßengraben sein, hätten dahinter nicht Zäune gestanden und Minen gelegen. Links des Weges liegt Bayern, rechts Thüringen. „Grünes Band“ nennt sich der Grenzstreifen, der sich über 1.300 Kilometer durch Deutschland erstreckt. Er zieht sich über Felder und schneidet Winkel in Wälder wie eine akkurat um die Ecke geschlagene Schneise. Geschossen wird hier nicht mehr, zumindest nicht auf Menschen. Nur für Tiere ist der vormalige Todesstreifen noch lebensgefährlich, denn in regelmäßigen Abständen haben Jäger Hochsitze aufgestellt. Sie sind aus Holz, anders als die Wachtürme, die hier immer noch stehen. Etwa 20 Kilometer Fußmarsch liegen vor den Pilgern. Es ist die dreizehnte Etappe der Gebetswanderung an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Veranstaltet wird sie von den Vereinen „Gemeinsam beten und bewegen“ und „Jugend mit einer Mission“ (JMEM) sowie der „Projektgruppe 3. Oktober“ anlässlich der 25 Jahre, seit denen dieser Streifen Deutschland nicht mehr trennt. Zeitgleich wandert eine andere Gruppe von der Ostsee nach Süden. Am 8. November werden sich alle Pilger im Harz treffen.

Beten und laufen

Bevor die Gruppe losgelaufen ist, hat Martin die Teilnehmer an den Impuls aus der Morgenandacht erinnert. Über den sollen sie miteinander sprechen und beten. Das Vater Unser ist Thema. Immer wieder gibt es auf der Wanderung Pausen, in denen Martin etwas zu den Sätzen dieses Gebets sagt. Dann bilden sich neue Zweiergruppen, tauschen sich darüber aus und beten, laut oder leise, beim Laufen. Außer dem Gemurmel ist hin und wieder ein „Amen“ zu hören oder ein „Halleluja“, als die Sonne es schafft, einen Strahl durch einen Spalt zwischen den Wolken zu schicken. An diesem Oktobertag ist auch die 29-jährige Stefanie dabei. Sie hat schon mehrere Gebetswanderungen gemacht. Ursprünglich kommt sie aus dem Erzgebirge, jetzt lebt und arbeitet sie in Karlsruhe. Es ist ihr wichtig, viel zu beten und sich Gott zuzuwenden. „Unser tägliches Brot gib uns heute“, ist der Impuls für die nächsten Kilometer. Sie betet für Menschen, die Hunger leiden, für Flüchtlinge, dankt für die Ernte. Dazwischen unterbricht sie manchmal: „Guck mal, ein Reh!“, sagt sie, oder deutet auf den herbstlich-bunten Waldrand, der sich sonnenbestrahlt vom dunklen Himmel abhebt: „Wie schön.“

Fremd im Osten

Stefanie ist nicht die einzige der Gruppe, die irgendwann nach der Wiedervereinigung die Seiten des Landes gewechselt hat. Lena zum Beispiel stammt aus Jena, ist später auf die Bibelschule Wiedenest gegangen und dann im Bergischen Land geblieben. Die umgekehrte Richtung haben unser Tagesleiter Martin und seine Frau Ruth eingeschlagen. Sie sind 1993 aus Baden-Württemberg nach Sachsen gezogen, um ein Familienzentrum von „Jugend mit einer Mission“ aufzubauen. Ruth kommt ursprünglich aus der Schweiz. Sie erinnert sich noch daran, wie sie als Fremde, als „Wessis“, in einem 500-Seelen-Dorf in der Lausitz förmlich angestarrt worden seien. Ihr Ulmer Autokennzeichen tat sein Übriges. Schwierig war es für sie, kein Telefon mehr zu haben. Die nächste Telefonzelle gab es im Nachbarort, dort mussten sie sich anstellen, um einen Anruf zu tätigen. An ihrem späteren Wohnort Hainichen in Mittelsachsen sei es viel Arbeit gewesen, Vertrauen aufzubauen. „Wir haben da auch Fehler gemacht und mussten Buße tun, einfach, weil wir nicht wussten, wie die Menschen hier denken“, sagt sie. Sie wurde konfrontiert mit dem Frust der Sachsen über Westdeutsche, die unbedarfte und vom Kapitalismus überrollte Ostdeutsche nach der Wende ausnutzten, ihnen Kredite aufschwatzten und zu Einkäufen überredeten. Dass viele Eltern ihre Kinder so früh wie möglich in professionelle Betreuung abgaben, befremdete Ruth. Und sie beobachtete in den Seminaren, die sie im JMEM-Zentrum anboten, dass die ostdeutschen Teilnehmer ihre Fragen und Meinungen für sich behielten. „Man hat gesehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet, aber sie haben nichts gesagt. Ich war es gewohnt, zu diskutieren.“ Wenn der Weg abseits der Grenzlinie über Landwirtschaftsstraßen und Dörfer führt, kommen den Pilgern ab und zu auch Autos entgegen. Einige der Wanderer winken ihnen grüßend zu. Die meisten grüßen zurück, ein Traktorfahrer mit Pflug schüttelt den Kopf. Die Beter haben eine Fahne dabei, schwarz-rot-gold. Auf jedem Farbstreifen steht ein Wort: Jesus ist Herr. Einer der Pilger geht mit einer Fackel voran. Sie soll symbolisieren, das Jesus das Licht für die Welt ist.

Neue Impulse braucht das Land

Auch Karsten trägt einmal Fackel und Fahne. Er ist 74 Jahre alt, groß und drahtig. Unter der Krempe seines Lederhuts wallen weiße Locken hervor, die den Rand seines Kopfes säumen. Der Mediziner aus Schleswig-Holstein hat immer im Westen der Republik gelebt. Seine Frau ist mit 16 Jahren aus der DDR geflohen. Viele Christen hätten 40 Jahre lang für die Wiedervereinigung gebetet, sagt er. „Es ist unmöglich, dass wir jetzt so tun, als wäre das alles selbstverständlich.“ Auch wenn er damit gerechnet hat, dass Gott Wunder tun kann, kam die Wende für ihn überraschend. Weil er beruflich damals sehr eingespannt war, hat er sie eher nebenbei wahrgenommen. Mittagspause. Die Wolken geben das Blau des Himmels frei. Am Rand eines Maisfeldes setzen sich die Wanderer ins Gras und essen belegte Brote. Kekse und Nüsse machen die Runde. Angela hat einen Platz auf der Bank gefunden. Sie ist schon seit der ersten Etappe dabei. Beim Laufen schwingt sie Wanderstöcke. Als fromme Christin würde sich die Hallenserin wohl nicht bezeichnen, aber sie wollte Pilgern gehen, um sich mit dem Glauben zu beschäftigen. Sie ist froh, sagt sie, dass die anderen sie in die Gruppe aufgenommen haben und ihr geduldig die Dinge des Christseins erklären, die sie nicht kennt. Politisch war sie in der DDR-Bürgerbewegung Neues Forum aktiv. Doch die Wende hat auch sie mehr am Rande miterlebt. In jenem Jahr hat sie sich scheiden lassen und war privat sehr gefordert. Sie gründete daraufhin einen Selbsthilfeverein für Alleinerziehende. Die Euphorie über die Demokratie ist verflogen, stellt sie fest, die Verhältnisse in der Gesellschaft haben sich eingespielt. „Wir leben in einer Zeit, wo wir neue Impulse brauchen“, sagt sie, „auch von der Kirche.“

Gebete mit Wirkung

Auf dem letzten Abschnitt der Etappe fängt es an zu regnen. Die Tropfen fallen dicht an dicht. Die Wanderer stapfen durch hohes, nasses Gras und erreichen wieder den Kolonnenweg. Der geht hier steil bergauf und -ab, quer durchs Gelände, wie die Grenze eben verlief. Durch die Nässe und das Laub ist der Beton rutschig. Die Gesamtleiterin der Gebetswanderung, Bettina, hat die Wiedervereinigung selbst nicht miterlebt. Sie ist 26 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in München. Dessen Großeltern kommen wiederum aus Sachsen. Bettina sagt: „Viele Christen in der DDR waren Glaubenshelden. Sie sind im Glauben standhaft geblieben, trotz vieler Nachteile.“ Dafür seien sie aber nie gewürdigt worden. Sie glaubt, dass die Gebetswanderung zu mehr Einheit und Versöhnung im Land beitragen kann. Und dazu, dass Menschen mit solchen Erlebnissen innerlich geheilt werden, wenn Menschen für sie beten und sie ihre Geschichte erzählen können. Wie der ehemalige Grenzsoldat, der ein Stück des Weges mitgeht. Er war von 1961 bis 64 an diesem Grenzabschnitt stationiert. Als sich die Kubakrise zuspitzte, dachte er, der Krieg geht los. Doch er hatte nicht schießen müssen. Gebete bewegen etwas und Gott reagiert darauf – davon sind die Beter hier überzeugt. Der letzte Anstieg. Es geht hinauf auf den Hügelzug Schanz bei Henneberg. Die Pilger pausieren kurz auf halber Höhe und singen ein Lied. Der Regen hat nachgelassen, Wolkenfetzen ziehen wie Dampf aus dem Tal herauf. Eine bizarre Stille liegt über dem Grenzgebiet. Die Etappe endet am ehemaligen Grenzübergang Eußenhausen-Meininigen. Ein alter Wachturm, ein Straßenschild und Kunstinstallationen erinnern an ihn.

Das Wunder ist nicht normal

Mit Autos werden die Pilger in das Nachbardorf Sülzfeld gebracht. Dort gibt es im Evangelischen Gemeindehaus Schweizer Rösti, Reis und Geschnetzeltes. Einige der Wanderer werden in der Nacht hier schlafen, ein paar kommen privat unter. Martin und seine Frau reisen nach dem Essen ab. Sie waren mit einer kurzen Unterbrechung zwei Wochen lang dabei. Morgen ist Ruhetag. Danach wird sich die Wandergruppe wieder anders zusammensetzen. Am Abend steht der Besuch eines Gebetsabends in einer Meininger Freikirche an. Einige Wanderer berichten von ihren Erlebnissen beim Pilgern. Dem 23-jährigen Christoph kommen die Tränen, als er von der Begegnung mit den ehemaligen Grenzsoldaten spricht, davon, dass Gott damals Wunder getan hat – und über seinen Ärger, dass viele Menschen dies heute als so normal empfinden. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/kommentar/detailansicht/aktuell/zur-freiheit-befreit-89640/
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/detailansicht/aktuell/wiedervereinigung-die-kirchen-glaubten-nicht-daran-89401/
https://www.pro-medienmagazin.de/medien/internet/detailansicht/aktuell/internetportal-zum-wunder-der-einheit-88063/
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