Julia flirtet auf der Arbeit mit ihrem Kollegen und beschwert sich über ihr langweiliges Eheleben. Tobias leitet im Verlag ein Team, kann sich aber nicht gegen einen vorlauten Kollegen durchsetzen. Anschließend kehren die Ehepartner abends zurück in ihr blank geputztes Haus, setzen sich an den Designer-Abendbrottisch und erzählen von ihrem Tag – so wie sie ihn gern gehabt hätten. Da hat Tobias seinem Kollegen plötzlich gewaltig die Meinung gesagt. Und Julia ist wirklich sehr, sehr glücklich mit ihrem Mann.
So weit, so normal, wenn hier auch überspitzt dargestellt. Wer kennt sie nicht, die kleinen Ausschmückungen, wenn man über sich selbst spricht? Das Verschweigen der eigenen Schwächen? Das Betonen der Heldentaten?
Doch Julia (Julia Jentsch) und Tobias (Felix Kramer) haben ein Problem. Seit ihre Teenager-Tochter Marielle (Laeni Geiseler) in der Schule von einer Freundin geohrfeigt wurde, hat sie telepathische Fähigkeiten entwickelt. Genauer: Sie kann alles sehen, was ihre Eltern den ganzen Tag lang tun und sagen. In Echtzeit. Sie weiß von den Ego-Problemen des Vaters und der Unzufriedenheit der Mutter. Und damit natürlich auch von allen Unaufrichtigkeiten, kleineren und größeren Lügen, die die beiden sich erzählen. Das bringt das eigentlich so gemütlich-langweile-Feierabendgespräch bei Tisch völlig durcheinander.
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Und nicht nur das. Denn ab dem Moment, in dem die Eltern wissen, dass sie rund um die Uhr unter Beobachtung stehen, sehen sie sich in Zugzwang. Brenzlige Themen besprechen sie nur noch auf Französisch, in der Hoffnung, Marielle verstehe das nicht. Tobias, nun unter Druck, sich zu beweisen, sagt dem nervigen Kollegen gehörig die Meinung. Und Julia meidet zunächst den Kontakt mit ihrem Arbeitsflirt Max, nur um einen Tag später in Fatalismus zu verfallen und sich auf einen mehr erzwungenen als bereichernden Seitensprung mit ihm einzulassen. Ganz nach dem Motto: Ist doch nun sowieso egal.
Was tun, wenn Gott alles sieht?
Was da in Frédéric Hambaleks Film passiert, ist ebenso verrückt wie wunderbar inszeniert. Obwohl er kein Kammerspiel ist, wirkt es fast so, weil die beiden erwachsenen Protagonisten sich in ihrer Enttäuschung vom Gegenüber und in ihrer Überforderung mit den eigenen, jetzt offen da liegenden, Unzulänglichkeiten immer weiter hochschaukeln, sich hassen, vergeben, tun als wäre nichts gewesen, um dann aber wieder bissig gegen den anderen auszuteilen. Das ist derart überdreht, dass es die Zuschauer zeitweise vor Lachen aus den Sitzen hebt.
So ist es gewollt, der Film ist dem Genre Komödie zuzuordnen, wirkt dabei aber fast schon grotesk, um am Ende dann eben doch dramatische Züge zu offenbaren. Denn eine Frage steht im Raum, auch wenn man beim Zusehen auf der Leinwand lachen mag: Was tun, wenn da einer ist, der alles sieht? Jeden persönlichen Makel. Jede (Not-)Lüge. Jede Charakterschwäche und jeden Ausrutscher. Und was, wenn dieser Mensch auch noch einer der wichtigsten im Leben ist? Das geliebte Kind.
Hambalek wird es mit „Was Marielle weiß“ nicht intendiert haben, doch ganz zufällig erzählt er hier auch eine Geschichte, die Christen nachvollziehen können. Denn auch sie stehen vor der Frage: Wie gehe ich damit um, dass ein Gott, den ich liebe, meine Fehler und Schwächen jederzeit und immer sieht?
Gnade statt Zorn und Ego
Es ist eine der großen Herausforderungen des christlichen Lebens, in diesem Wissen nicht in eine Werkgerechtigkeit zu verfallen, also sich selbst Glauben zu machen, gerecht handeln zu können. Und sich andererseits aber auch nicht von Gott abzuwenden, mit der Idee, man sei ihm ohnehin nicht würdig. Oder ihn gar dafür zu hassen, dass er mutmaßlich die eigene Freiheit einschränke.
Julia und Tobias im Film gehen durch alle diese Stadien. Zunächst versuchen sie, alles richtigzumachen. Das misslingt, wie zu erwarten. Dann antworten sie mit Wut auf die Omnipräsenz der Tochter. Tobias wird handgreiflich gegenüber dem Kollegen, Julia zwingt sich zum Realisieren ihrer Fantasien. Und ganz am Ende, als Julia ihre Tochter schon verloren zu haben glaubt, findet sie einen neuen Weg: Sie begegnet ihr mit Liebe.
Steckt darin nicht auch eines der Geheimnisse des Glaubens? Der Weg, die eigenen Schwächen akzeptieren zu lernen und dennoch nicht in ihnen zu verharren lautet: Die Liebe Gottes zu akzeptieren und zugleich so gut es geht, zurückzulieben. Um in diesem Mindset einen neuen Weg einzuschlagen. So wie Julia es am Ende dieses Films mit Marielle tut. Das Ende ist offen, der Zuschauer erfährt nicht, wohin diese Wende führt. Christen hingegen haben eine gewisse Idee davon, wie es weitergehen könnte. Gnädig nämlich.
„Was Marielle weiß“ läuft am 17. April offiziell in den Kinos an. Dem Publikumsapplaus nach zu urteilen, hat der Film auch Chancen auf einen Berlinale-Preis. Die sogenannten „Bären“ werden am Samstag in Berlin verliehen.