Der an der Universität Dortmund lehrende Pöttker erklärt in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit: „Mit meinem Verständnis von Journalismus ist eine derartige Selbstzensur nicht zu vereinbaren. Journalisten sollten nicht die Erzieher der Nation sein.” Damit spricht er die Richtlinie 12.1 des Pressekodex an. Medienschaffende sind demnach verpflichtet, in der Berichterstattung über Straftaten die Zugehörigkeit Verdächtiger oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann zu erwähnen, wenn es unbedingt notwendig ist und ein „begründbarer Sachbezug” besteht. Die Befürchtung: Die Erwähnung könnte Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren.
Menschen mit Migrationshintergrund noch schutzbedürftig?
Konkret nimmt Pöttker Bezug zu einem Fall, der sich im Dezember nahe Amsterdam zugetragen hat. Eine Gruppe Jugendlicher hatte nach einem Fußball-Regionalspiel einen Linienrichter zu Tode geprügelt. Deutsche Medien hätten damals nicht berichtet, dass es sich bei den Tätern um Marokkaner handelte, kritisiert Pöttker. Dies sei unvereinbar mit dem Anspruch „unerschrocken, fair und umfassend” zu berichten.
„Sind die 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die heute in Deutschland leben, tatsächlich schutzbedürftig?”, fragt der Journalistik-Professor stattdessen. Richtlinie 12.1 gründe auf historischen Umständen, die sich geändert hätten. Als konkretes Formulierungsverbot gehöre sie abgeschafft. Durch sie würden die Persönlichkeitsrechte des Täters nicht geschützt, schließlich werde er durch die Nennung nicht identifizierbar. Zudem entlaste der Grundsatz Journalisten vom Nachdenken über mögliche Problemursachen, die mit der Gruppenzugehörigkeit des Täters zu tun haben könnten.
Niggemeier: Gute Gründe, ethnischen Hintergrund nicht zu nennen
Scharfe Kritik an dieser Forderung hat derweil der Journalist Stefan Niggemeier geübt. In seinem Blog schreibt er: „Offenbar besteht die ‚Wahrheit’ für Pöttker darin, die ethnische Zugehörigkeit von Tatverdächtigen zu nennen. Ob diese Zugehörigkeit irgendetwas mit der Tat zu tun hat, spielt für ihn entweder keine Rolle oder er geht davon aus, dass das eh immer der Fall ist: Eine Tat erklärt sich durch die Herkunft des Täters.” Genauso gut hätten Journalisten den Vorfall mit den Worten „Islamische Jugendliche überfallen christlichen Linienrichter” erklären können. Auch das sei womöglich wahr, schreibt Niggemeier ironisch.
Zur Frage, ob Minderheiten in Deutschland noch schutzbedürftig seien, verweist Niggemeier auf den derzeit laufenden NSU-Prozess. Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund soll über Jahre hinweg aus fremdenfeindlichen Motiven getötet haben. „Es geht nicht nur darum, nicht selbst zu diskriminieren. Es geht um die Gefahr, dass Berichterstattung, selbst vermeintlich wahrheitsgemäße, solche Diskriminierung erleichtern oder verstärken kann”, so Niggemeier, und weiter: „Das ist der gute Grund, den ethnischen Hintergrund eines Täters oder Tatverdächtigen nicht zu nennen, es sei denn, er ist relevant.” (pro)