pro: Viele unserer heute gebräuchlichen Redewendungen stammen aus der Bibel, erklären Sie im sechsten Band von „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ und führen 60 Beispiele dafür an.
Bastian Sick: Und das ist nur eine kleine Auswahl!
Lesen Sie in der Bibel?
Ja, häufig sogar.
Was davon spricht Sie besonders an?
Als Kind habe ich die Geschichten des Alten Testaments sehr geliebt, weil sie wie Abenteuergeschichten sind – Jona und der Wal oder Jakob und seine Söhne und die Flucht von Mose aus Ägypten. Später habe ich aber gesehen, dass die eigentliche Kraft der Bibel im Neuen Testament liegt, in den Worten Jesu. Denn er hat es ja überhaupt erst ermöglicht, Gott mit anderen Augen zu sehen: nicht als strafenden Richter, sondern als einen, der versteht und verzeiht. Aber die Vorstellung, dass Gott ein liebes Väterlein ist, das dasitzt und uns alle lieb hat, ist auch ein bisschen naiv und lässt sich so aus der Bibel nicht ableiten.
Auf Ihrer Webseite haben Sie beim Abriss über Ihre Biografie auch ein Bild von Ihrer Taufe aufgeführt. Warum erwähnen Sie das Ereignis da?
Getauft zu sein bedeutet mir etwas, das ist mir wichtig. Und Mitglied der Kirche zu sein – inzwischen wieder, ich war es auch mal eine Zeitlang nicht.
Was hat dazu geführt, dass Sie aus- und wieder eingetreten sind?
So ein jugendlicher Sturm und Drang, als ich zwischen 20 und 30 war und mir die Kirche dann doch etwas zu konservativ vorkam. Dort fand ich nicht mehr die Antworten auf die Fragen meines Lebens. Ich entdeckte meine Sexualität und das Lotterleben eines Studenten, da war für die Kirche nicht so viel Platz. Als ich älter geworden bin, habe ich festgestellt, dass die Kirche aus Menschen besteht. Viele Menschen, die ich mag, gehen in die Kirche und sprechen darüber. Das hat mich dazu gebracht, mich wieder mehr damit zu beschäftigen. Irgendwann wurde ich gefragt, ob ich Pate einer meiner Nichten werden wollte. Darüber hab ich mich sehr gefreut und das war der Anlass, wieder einzutreten.
Zur Konfirmation haben Sie eine Schreibmaschine bekommen.
Genau, und zwar eine elektrische. Das war etwas ganz Besonderes, es gab ja noch keine Computer oder Drucker. Schreiben und Vervielfältigen war unendlich mühsam, denn es gab noch keine Fotokopierer. Man musste mit Blaupausen arbeiten. Ich habe Theaterstücke geschrieben, die ich mit Mitschülern aufgeführt habe. Die Stücke musste ich immer zwei-, dreimal auf der Maschine tippen und dabei jedes Mal einige Durchschläge mit anfertigen, damit ich am Ende wenigstens zehn Exemplare hatte, sodass alle Mitspieler ihren Text lesen konnten.
Sie haben im Kirchenchor mitgesungen, bevor Sie lesen konnten. Wie ging das?
Ich war fünf Jahre alt und meine älteren Schwestern – sieben und neun Jahre – waren bereits Mitglied im Kirchenchor. Meine Mutter fand, dass es praktisch wäre, wenn ich auch mit zum Chor könne, weil sie dann alle drei Kinder für ein, zwei Stunden aus dem Haus hatte. Ich musste vorsingen und hatte offenbar schon einen ausreichend hellen Knabensopran, der der Chorleiterin gefiel. Dass ich nicht lesen konnte, machte nichts, denn sie sang vor, alle anderen sangen nach. So lernten wir die Choräle. Dem Chor hielt ich ich über meine gesamte Kindheit die Treue, bis zum Abitur, also weit über meinen Stimmbruch hinaus. Ich hatte dann einen sehr schönen Tenor.
Tenöre werden ja immer gesucht.
Wobei das ein reiner Frauenchor war. Mein Tenor passte sich wunderbar in die Altstimme ein. Ich konnte also wunderbar dem Alt den nötigen Halt verleihen, wenn man so will. Erst als ich für den Wehrdienst nach Hamburg ging und meine Heimat verließ, bin ich aus dem Kirchenchor ausgetreten.
„Großer Gott, wir loben dich“ sei Ihr Lieblingskirchenlied, schreiben Sie. Was gefällt Ihnen daran so gut?
Ich mag die Melodie, die alte wohlgemerkt (singt). Die neue, ökumenische Melodie ist leicht verändert (singt). Für mich ist das Erhabene darin etwas verschwunden. Ich bin ein großer Freund von Hymnen. Wenn unsere Chorleiterin, die auch unsere Organistin war, in der letzten Strophe alle Register der Orgel zog und es dann wirklich vibrierte und alle aufstanden, hatte ich Tränen in den Augen. Nicht nur bei diesem Lied, sondern auch bei „O du fröhliche“. Das war unwahrscheinlich schön.
Mit Ihrem Missmut über veränderte Kirchenlieder sind Sie in guter Gesellschaft …
Der Dichter Matthias Claudius, der hier aus der Gegend stammt, hatte seinerzeit schon Schwierigkeiten mit diesem Phänomen, dass Lieder geändert wurden. Er verspätete sich dann zum Gottesdienst, um bestimmte Lieder nicht mitsingen zu müssen, und kam direkt zur Predigt.
Im Liederbuch für den Deutschen Evangelischen Kirchentag wurden auch manche Textzeilen umformuliert – indem zum Beispiel weibliche Formen aufgenommen wurden, zum Teil zulasten des Reimes oder der Grammatik. Was halten Sie von solchen Anpassungen?
Ich finde es sehr bedenklich, wenn man aus politischen Gründen Sprache manipuliert und auch Kunst dadurch verändert. Gesellschaftlich bin ich hundertprozentig für die Gleichstellung von Frauen. Sie sollen das Gleiche verdienen wie Männer bei einer gleichwertigen Tätigkeit und Position. Aber dieses zwanghafte „Wir müssen überall die weiblichen Formen einführen“… Wir dürfen nicht mehr von Studenten reden, weil damit die Studentinnen angeblich unterschlagen werden. Das stimmt nicht. Das grammatische Geschlecht ist nicht gleichbedeutend mit dem natürlichen, biologischen Geschlecht. Nehmen Sie das Wort „die Person“. Das ist weiblich. Sind Männer keine Personen? Das ist vollkommener Quatsch. Da ist die Sprache zum Instrument der Politik gemacht worden. Immer, wenn das passiert, werde ich äußerst skeptisch.
Viele Lieder im Evangelischen Kirchengesangbuch sind schon ein paar hundert Jahre alt. Warum sollten wir sie trotzdem noch singen?
Sie sind Teil unserer Kultur und Tradition. Sie haben etwas Generationenübergreifendes. Ich finde es wichtig, dass die Jungen etwas lernen, was ihre Eltern und Großeltern auch schon gelernt haben. Auf diese Weise bildet sich ein Schatz, aus dem alle schöpfen können. Das betrifft nicht nur Kirchenlieder, sondern auch Volkslieder und Gedichte. Einen solchen gemeinsamen Schatz braucht jede Kultur, sonst bricht sie auseinander.
Sie haben im Kirchenchor mitgesungen, bevor Sie lesen konnten. Wie ging das?
Ich war fünf Jahre alt und meine älteren Schwestern – sieben und neun Jahre – waren bereits Mitglied im Kirchenchor. Meine Mutter fand, dass es praktisch wäre, wenn ich auch mit zum Chor könne, weil sie dann alle drei Kinder für ein, zwei Stunden aus dem Haus hatte. Ich musste vorsingen und hatte offenbar schon einen ausreichend hellen Knabensopran, der der Chorleiterin gefiel. Dass ich nicht lesen konnte, machte nichts, denn sie sang vor, alle anderen sangen nach. So lernten wir die Choräle. Dem Chor hielt ich ich über meine gesamte Kindheit die Treue, bis zum Abitur, also weit über meinen Stimmbruch hinaus. Ich hatte dann einen sehr schönen Tenor.
Tenöre werden ja immer gesucht.
Wobei das ein reiner Frauenchor war. Mein Tenor passte sich wunderbar in die Altstimme ein. Ich konnte also wunderbar dem Alt den nötigen Halt verleihen, wenn man so will. Erst als ich für den Wehrdienst nach Hamburg ging und meine Heimat verließ, bin ich aus dem Kirchenchor ausgetreten.
„Großer Gott, wir loben dich“ sei Ihr Lieblingskirchenlied, schreiben Sie. Was gefällt Ihnen daran so gut?
Ich mag die Melodie, die alte wohlgemerkt (singt). Die neue, ökumenische Melodie ist leicht verändert (singt). Für mich ist das Erhabene darin etwas verschwunden. Ich bin ein großer Freund von Hymnen. Wenn unsere Chorleiterin, die auch unsere Organistin war, in der letzten Strophe alle Register der Orgel zog und es dann wirklich vibrierte und alle aufstanden, hatte ich Tränen in den Augen. Nicht nur bei diesem Lied, sondern auch bei „O du fröhliche“. Das war unwahrscheinlich schön.
Mit Ihrem Missmut über veränderte Kirchenlieder sind Sie in guter Gesellschaft …
Der Dichter Matthias Claudius, der hier aus der Gegend stammt, hatte seinerzeit schon Schwierigkeiten mit diesem Phänomen, dass Lieder geändert wurden. Er verspätete sich dann zum Gottesdienst, um bestimmte Lieder nicht mitsingen zu müssen, und kam direkt zur Predigt.
Im Liederbuch für den Deutschen Evangelischen Kirchentag wurden auch manche Textzeilen umformuliert – indem zum Beispiel weibliche Formen aufgenommen wurden, zum Teil zulasten des Reimes oder der Grammatik. Was halten Sie von solchen Anpassungen?
Ich finde es sehr bedenklich, wenn man aus politischen Gründen Sprache manipuliert und auch Kunst dadurch verändert. Gesellschaftlich bin ich hundertprozentig für die Gleichstellung von Frauen. Sie sollen das Gleiche verdienen wie Männer bei einer gleichwertigen Tätigkeit und Position. Aber dieses zwanghafte „Wir müssen überall die weiblichen Formen einführen“… Wir dürfen nicht mehr von Studenten reden, weil damit die Studentinnen angeblich unterschlagen werden. Das stimmt nicht. Das grammatische Geschlecht ist nicht gleichbedeutend mit dem natürlichen, biologischen Geschlecht. Nehmen Sie das Wort „die Person“. Das ist weiblich. Sind Männer keine Personen? Das ist vollkommener Quatsch. Da ist die Sprache zum Instrument der Politik gemacht worden. Immer, wenn das passiert, werde ich äußerst skeptisch.
Viele Lieder im Evangelischen Kirchengesangbuch sind schon ein paar hundert Jahre alt. Warum sollten wir sie trotzdem noch singen?
Sie sind Teil unserer Kultur und Tradition. Sie haben etwas Generationenübergreifendes. Ich finde es wichtig, dass die Jungen etwas lernen, was ihre Eltern und Großeltern auch schon gelernt haben. Auf diese Weise bildet sich ein Schatz, aus dem alle schöpfen können. Das betrifft nicht nur Kirchenlieder, sondern auch Volkslieder und Gedichte. Einen solchen gemeinsamen Schatz braucht jede Kultur, sonst bricht sie auseinander.
Welchen Tipp können Sie Kirchen geben, wenn sie über religiöse Themen kommunizieren?
Ich würde sagen: Besinnt euch auf eure Traditionen und macht nicht jeden modischen Quatsch mit. Es gibt ja immer Stimmen, die sagen: Die Kirche ist nicht mehr zeitgemäß, wir müssen uns der Jugend anpassen, uns modernisieren, zum Beispiel mehr Rockmusik singen. Natürlich muss sich die Kirche auch anpassen und verschiedene Strömungen des Zeitgeistes unter ihr Dach bringen. Aber man sollte das Eigentliche nicht aus den Augen verlieren. Die Kirche sollte sich immer auf das besinnen, wozu sie mal ins Leben gerufen wurde: Menschen zusammenzuführen, um das Wort Gottes zu verkünden, zu predigen, zu singen, und die Kraft des Glaubens zu beschwören als etwas Heilendes, etwas Wohltuendes, damit man getröstet und gestärkt wieder aus der Kirche nach Hause geht.
Seit 2003 schreiben Sie Kolumnen über die deutsche Sprache und ihre Tücken, sammeln Fragen und Fehlleistungen. Was hat sich seitdem verändert?
Die Fragen meiner Leser sind heut zum Teil noch die gleichen wie vor zehn oder zwanzig Jahren, wenn es um bestimmte grammatische Aspekte geht, die sich nicht grundlegend geändert haben. Zum Beispiel: Heißt es „Ich bestehe auf meinem Recht“ oder „Ich bestehe auf mein Recht“? Meine eigenen Themen haben sich aber verändert. Ich befinde mich durch meine Arbeit in einem fortwährenden Lernprozess. Ich denke, dass meine Texte inzwischen etwas reifer sind als noch vor dreizehn Jahren, als ich anfing.
Was meinen Sie mit „reifer“?
Die anfänglichen „Zwiebelfischkolumnen“ waren sehr auf Witz und Ironie angelegt. Da habe ich vieles als bekannt vorausgesetzt, etwa wie der Imperativ gebildet wird – dass es „friss“ heißt und nicht „fresse“ – oder der Plural. Ich ging davon aus, dass das alle anderen auch wissen und darüber lachen werden. Aber ich stellte fest, dass ich das nicht unbedingt als selbstverständlich voraussetzen kann und bei der Erklärung etwas weiter ausholen muss. Durch meine Studien der Dialekte und der Literatur habe ich festgestellt, dass es sehr, sehr viele andere grammatische Nebenformen gibt, die sich regional gehalten haben. Es gilt immer zu betrachten, aus welchem Kontext heraus eine Form entstanden ist, geschichtlich oder regional oder auch sozial. Je älter man wird, desto gelassener wird man auch, Gott sei Dank. Das ist vielleicht die größte Segnung des Alters, dass man mehr Zusammenhänge versteht und eher bereit ist, andere Formen zuzulassen – in sprachlicher Hinsicht, aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht, was Lebensformen betrifft oder andere Religionen, Kulturen, Musik, Kleidungsstile. Man erkennt, dass das Leben vor allem deshalb schön ist, weil es vielseitig ist.
In einem Text schreiben Sie, dass wir Luther und seiner Bibelübersetzung den Erhalt des Genitivs verdanken. Gibt es darüber hinaus etwas, wofür Sie Luther dankbar sind?
Allerdings! Für mich ist Luther der größte Held in der Geschichte. Ohne Luther hätte es die spätere Aufklärung nicht gegeben, es wäre niemals zu einer wirklichen Demokratisierung der Gesellschaft gekommen. Luther hat zunächst eine rein theologische Veränderung beabsichtigt. Letztlich hat es aber dazu geführt, dass die Gesellschaft insgesamt in Bewegung geraten ist. Das Wesentliche der Reformation war ja, dass der Mensch für sein Handeln vor allem sich und seinem Gewissen verantwortlich ist. Und das Gewissen ist der Spiegel Gottes. In der Katholischen Kirche – letztlich auch dank Luthers – ist ebenfalls vieles in Bewegung geraten. In gewisser Weise sind auch die Katholiken Lutheraner. Luther hat im Grunde die ganze christliche Welt verändert.
Ich habe bei Ihnen gelesen, dass man „gedenken“ mit dem Genitiv verwendet.
Das können Sie nicht nur bei mir lesen, sondern in allen Standardwerken zur deutschen Sprache. Man gedenkt zum Beispiel eines Verstorbenen (und nicht: einem Verstorbenen) , man gedenkt der Opfer – und nicht den Opfern, wie leider oft in der Presse zu lesen ist.
Nun lese ich aber ausgerechnet in der Lutherbibel: „Er gedenkt ewiglich an seinen Bund“ (Psalm 105,8) – also Akkusativ. Wie kann das sein?
Da ist ja noch die Präposition „an“ dazugekommen. Dann gilt eine andere Regel: Der Kasus wird von der Präposition bestimmt und „an“ steht mit dem Akkusativ. Dass man „an jemanden gedenken“ kann, war zu Luthers Zeiten offenbar als Nebenform möglich. Daraus wurde später unser „an jemanden denken“ – ohne die Vorsilbe „ge“ – und ohne den Genitiv.
Vielen Dank für das Gespräch.
Welchen Tipp können Sie Kirchen geben, wenn sie über religiöse Themen kommunizieren?
Ich würde sagen: Besinnt euch auf eure Traditionen und macht nicht jeden modischen Quatsch mit. Es gibt ja immer Stimmen, die sagen: Die Kirche ist nicht mehr zeitgemäß, wir müssen uns der Jugend anpassen, uns modernisieren, zum Beispiel mehr Rockmusik singen. Natürlich muss sich die Kirche auch anpassen und verschiedene Strömungen des Zeitgeistes unter ihr Dach bringen. Aber man sollte das Eigentliche nicht aus den Augen verlieren. Die Kirche sollte sich immer auf das besinnen, wozu sie mal ins Leben gerufen wurde: Menschen zusammenzuführen, um das Wort Gottes zu verkünden, zu predigen, zu singen, und die Kraft des Glaubens zu beschwören als etwas Heilendes, etwas Wohltuendes, damit man getröstet und gestärkt wieder aus der Kirche nach Hause geht.
Seit 2003 schreiben Sie Kolumnen über die deutsche Sprache und ihre Tücken, sammeln Fragen und Fehlleistungen. Was hat sich seitdem verändert?
Die Fragen meiner Leser sind heut zum Teil noch die gleichen wie vor zehn oder zwanzig Jahren, wenn es um bestimmte grammatische Aspekte geht, die sich nicht grundlegend geändert haben. Zum Beispiel: Heißt es „Ich bestehe auf meinem Recht“ oder „Ich bestehe auf mein Recht“? Meine eigenen Themen haben sich aber verändert. Ich befinde mich durch meine Arbeit in einem fortwährenden Lernprozess. Ich denke, dass meine Texte inzwischen etwas reifer sind als noch vor dreizehn Jahren, als ich anfing.
Was meinen Sie mit „reifer“?
Die anfänglichen „Zwiebelfischkolumnen“ waren sehr auf Witz und Ironie angelegt. Da habe ich vieles als bekannt vorausgesetzt, etwa wie der Imperativ gebildet wird – dass es „friss“ heißt und nicht „fresse“ – oder der Plural. Ich ging davon aus, dass das alle anderen auch wissen und darüber lachen werden. Aber ich stellte fest, dass ich das nicht unbedingt als selbstverständlich voraussetzen kann und bei der Erklärung etwas weiter ausholen muss. Durch meine Studien der Dialekte und der Literatur habe ich festgestellt, dass es sehr, sehr viele andere grammatische Nebenformen gibt, die sich regional gehalten haben. Es gilt immer zu betrachten, aus welchem Kontext heraus eine Form entstanden ist, geschichtlich oder regional oder auch sozial. Je älter man wird, desto gelassener wird man auch, Gott sei Dank. Das ist vielleicht die größte Segnung des Alters, dass man mehr Zusammenhänge versteht und eher bereit ist, andere Formen zuzulassen – in sprachlicher Hinsicht, aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht, was Lebensformen betrifft oder andere Religionen, Kulturen, Musik, Kleidungsstile. Man erkennt, dass das Leben vor allem deshalb schön ist, weil es vielseitig ist.
In einem Text schreiben Sie, dass wir Luther und seiner Bibelübersetzung den Erhalt des Genitivs verdanken. Gibt es darüber hinaus etwas, wofür Sie Luther dankbar sind?
Allerdings! Für mich ist Luther der größte Held in der Geschichte. Ohne Luther hätte es die spätere Aufklärung nicht gegeben, es wäre niemals zu einer wirklichen Demokratisierung der Gesellschaft gekommen. Luther hat zunächst eine rein theologische Veränderung beabsichtigt. Letztlich hat es aber dazu geführt, dass die Gesellschaft insgesamt in Bewegung geraten ist. Das Wesentliche der Reformation war ja, dass der Mensch für sein Handeln vor allem sich und seinem Gewissen verantwortlich ist. Und das Gewissen ist der Spiegel Gottes. In der Katholischen Kirche – letztlich auch dank Luthers – ist ebenfalls vieles in Bewegung geraten. In gewisser Weise sind auch die Katholiken Lutheraner. Luther hat im Grunde die ganze christliche Welt verändert.
Ich habe bei Ihnen gelesen, dass man „gedenken“ mit dem Genitiv verwendet.
Das können Sie nicht nur bei mir lesen, sondern in allen Standardwerken zur deutschen Sprache. Man gedenkt zum Beispiel eines Verstorbenen (und nicht: einem Verstorbenen) , man gedenkt der Opfer – und nicht den Opfern, wie leider oft in der Presse zu lesen ist.
Nun lese ich aber ausgerechnet in der Lutherbibel: „Er gedenkt ewiglich an seinen Bund“ (Psalm 105,8) – also Akkusativ. Wie kann das sein?
Da ist ja noch die Präposition „an“ dazugekommen. Dann gilt eine andere Regel: Der Kasus wird von der Präposition bestimmt und „an“ steht mit dem Akkusativ. Dass man „an jemanden gedenken“ kann, war zu Luthers Zeiten offenbar als Nebenform möglich. Daraus wurde später unser „an jemanden denken“ – ohne die Vorsilbe „ge“ – und ohne den Genitiv.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Jonathan Steinert
Der Artikel ist in der Ausgabe 1/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen, das Sie kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915-151, per E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online bestellen können.