Ein „Toter“ liegt in der Dresdner Innenstadt. Er hat ein Schild auf dem Rücken. Darauf ist zu lesen: „Karl Marx ist tot, John F. Kennedy ist tot und mir ist auch schon ganz schlecht. ‚Bedenke, dass du sterben musst, auf dass du klug wirst.‘ Die Bibel.“ Der Spruch erinnert die Passanten an ihre eigene Vergänglichkeit. Der „Tote“ ist Arno Backhaus. Missionarische Aktionen wie diese sind seine Markenzeichen.
Er mag manchen als fromme Ulknudel oder schräger Vogel erscheinen. Doch dahinter steckt sein tiefes Anliegen, dass Menschen Jesus kennenlernen und er ihr Leben verändert. So wie seines. Als er sich als Jugendlicher für Jesus entscheidet, wenden sich die Prioritäten seines Lebens um 180 Grad. Bis heute sprudelt der fast 70-Jährige vor Ideen, wie er die Menschen mit der frohen Botschaft der Bibel erreichen kann.
Dabei sind die Startvoraussetzungen für sein Leben alles andere als leicht. Seine Heimat ist das nordhessische Frankenberg, doch ein richtiges, emotionales Zuhause fehlt ihm. „Als Kind habe ich mich oft gefragt, ob mich meine Eltern adoptiert haben.“ Seine Mutter droht ihm öfter damit, ihn ins Heim zu geben. Sie schlägt ihn für seine kleinen und großen Schwindeleien oder beauftragt den Vater, dies zu erledigen. Häufig muss Backhaus als Kind zur Strafe in den Kohlenkeller.
„Ich habe in meiner Kindheit nicht viele gute Sätze gehört“
Gleichzeitig erlebt er, wie seine Mutter anderen Menschen gegenüber hilfsbereit und freundlich ist. Trost und Zuneigung erfährt er in seinem Elternhaus kaum, auch wenn er seinen Vater rückblickend als „unendlich geduldig“ beschreibt. „Ich habe in meiner Kindheit nicht viele gute Sätze gehört“, erinnert sich Backhaus im Gespräch. Für sein Verhalten ist das Gift. Grenzen sind nur da, um sie zu ignorieren. Das bringt ihm Applaus von Gleichaltrigen, aber auch viel Ärger ein. Langeweile kann er nur schwer ertragen. In der Schule mimt der kleine Arno den Clown. Er macht oft die Streiche, die andere sich nicht trauen. Dabei sucht er eigentlich nur Anerkennung, um den Mangel an Zuneigung auszugleichen. In seinen Zeugnissen steht, dass sein „Betragen Anlass zur Sorge“ gibt. Backhaus wechselt mehrfach die Schule, aber die Probleme bleiben.
30 Jahre später wird bei seinem Sohn Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert und Backhaus wird schlagartig klar, woher die Probleme der eigenen Kindheit rührten. „Fabian schlug und verletzte andere Kinder. Zuhause im Garten hat er Molotowcocktails in die Luft gejagt. Sein Verhalten hat unser Leben komplett auf den Kopf gestellt.“ Die fünfköpfige Familie beschäftigt sich intensiv mit der Krankheit. Sie sieht auch, wie der Sohn und seine beiden Geschwister unter dessen Verhalten leiden. „Wir mussten ihnen immer wieder erklären, warum Fabian so schwierig ist.“ Mittlerweile haben sowohl Backhaus als auch sein Sohn Strategien gefunden, um mit der Diagnose umzugehen kann. Backhaus hat mit den zwei Pädagogen Visnja und Dr. Just Lauer ein Buch darüber geschrieben. Darin wirbt er für einen wertschätzenderen Umgang mit AD(H)S’lern. Er weiß: Ohne die Abenteuerlust, die Kreativität und die Freude an Abwechslung eines ADHS’lers hätte er viele seiner beruflichen Ziele nicht umsetzen können.
Jesus krempelt das Leben um – schrittweise
Die Schule verlässt Backhaus ohne Abschluss. Dass er damals eine christliche Freizeit besucht, ist für ihn eine willkommene Abwechslung zum Nichtstun. Den christlichen Glauben hatte er bis dahin nicht besonders positiv wahrgenommen. Seine Eltern stammten aus einem freikirchlichen Umfeld. Gottesdienstbesuche bei den Baptisten in Kassel waren für ihn lästige Pflicht. Doch seine Vorbehalte gegenüber Christen wirft er auf der Freizeit über Bord.
Mit dem Freizeitleiter spricht er über Gott und die Welt. Backhaus merkt, dass dieser ihm nichts überstülpen will: „Ich konnte schlagartig glauben, dass dieser Gott, dieser Jesus, lebt und mich liebt.“ Vor Freude, Glück und Begeisterung muss er anfangen zu weinen, erinnert sich der Senior. Zurück im Alltag braucht der Jugendliche noch Zeit, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Während seiner Lehre zum Großhandelskaufmann klaut er noch Waren im Wert von 1.500 DM. Den Schaden begleicht er Jahre später nach einem klärenden Gespräch mit dem Chef – mit Zins und Zinseszins.
Voller Enthusiasmus bringt er sich in der christlichen Jugendarbeit „Jugend 67“ ein. Die Jugendgruppe kümmert sich um Menschen am gesellschaftlichen Rand. Für Backhaus wird sie zur geistlichen und emotionalen Heimat, in der er sich entwickeln kann: „Es hat einige Zeit gedauert, bis sich meine Einstellung, mein Verhalten und meine Methoden verändert haben.“ Jedes Wochenende ist ab jetzt für die Jugendarbeit verplant. Auf der Fahrt zum Weltjugendtreffen nach Berlin lernt er Hanna kennen: „Sie hatte eine tolle Ausstrahlung.“ Biografisch treffen damit Welten und ganz verschiedene Typen aufeinander: Die zurückhaltende Frau stammt aus einer Großfamilie, Arno hat lediglich eine Schwester. 1972 heiraten die beiden: „Für mich war es eine Erlösung, weil ich aus meinem engen, reglementierten Elternhaus fliehen konnte. Hanna hatte sieben Geschwister und war froh, nicht mehr alles mit allen teilen zu müssen.“ Es dauert, bis beide sich in ihren Lebensentwürfen annähern.
Mehrfach steht das lebenslange Versprechen auf der Kippe. Hanna und er raufen sich zusammen. Sie lernen, sich für den anderen zurückzunehmen und zu den eigenen Schwächen zu stehen. In der Erziehung ihrer drei Kinder ist es dem Ehepaar wichtig, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. „Hier haben wir Bedürfnisse und Konflikte offen angesprochen und unseren Zusammenhalt gestärkt.“ Durch ihr ausgleichendes Wesen hält vor allem Hanna die ganze Familie zusammen. „Wir haben gemeinsam gefeiert, gespielt und gelacht. Oder diskutiert bis zum Umfallen, uns gegenseitig geärgert, verletzt und dann wieder miteinander versöhnt.“ Etwas, was Backhaus mit seiner eigenen Mutter nicht möglich ist: „Ich habe mich mit meiner Mutter nie versöhnt, aber ich habe ihr bewusst vergeben.“ Er bedauert, dass seine Mutter mit ihm nie über die Ereignisse seiner Kindheit sprechen konnte.
Mischung aus Tiefgang und Klamauk
Backhaus erwirbt auf dem zweiten Bildungsweg die Voraussetzungen für das Sozialarbeits-Studium. In Kassel organisiert er einen Abenteuerspielplatz, auf dem sich täglich mehr als 100 Kinder treffen, um Fußball zu spielen, sich handwerklich zu betätigen oder Freunde zu treffen. Parallel dazu leitet Backhaus in Kassel eine Jugendgruppe. Zudem entsteht aus dem Vertrieb von „frommem Kleinkram“ oder bedruckten T-Shirts mit Sprüchen wie „Stumpft der Mensch vom Gaffen ab“ „Arnos Bauchladen“, der bis heute noch in seiner Garage in Calden untergebracht ist und bei manchen christlichen Veranstaltungen zum Einsatz kommt.
„Wir haben uns auch häufig Unrecht getan!“
Aus seinen gelegentlichen musikalischen Aktivitäten wird über Umwege ab 1974 das Projekt „Arno & Andreas“, das etliche Generationen junger Christen prägt. Für Backhaus und den Theologen Andreas Malessa sind die Platten und Konzerte ein zweites finanzielles Standbein. Doch Konflikte bleiben nicht aus. Der strukturierte Musiker Malessa hat mit dem „Chaoten“ Backhaus einige Kämpfe auszutragen, und oft gehen sie ganz unterschiedlich an die gemeinsame Arbeit heran: „Wir haben uns auch häufig Unrecht getan!“, sagt Backhaus heute. Doch bei allen Schwierigkeiten: Die Formation hält fast 20 Jahre. Bis zum Abschiedskonzert 1991 vor 5.000 Zuschauern geben „Arno & Andreas“ jedes Jahr bis zu 120 Konzerte vor 200 bis 1.000 Besuchern. Insgesamt veröffentlichen sie sechs Platten mit einem „Mix aus Tiefgang und Klamauk, Ernsthaftigkeit und Humor“. Das Publikum habe von den unterschiedlichen Qualitäten der beiden Künstler aber profitiert. Backhaus kann in den Konzerten immer seine Blödeleien und Witze unterbringen oder kreative Aktionen einstreuen. In christlichen Kreisen leisten sie mit ihrer Popmusik Pionierarbeit, werden aber auch von konservativen Christen kritisch beäugt ob ihrer modernen Musik.
Seine Kreativität kommt Backhaus auch bei seinen Straßeneinsätzen zugute. Hier nutzt er seine Neugierde und sein sprachliches Feingefühl, um die Menschen zu verwirren oder ins Nachdenken zu bringen. Da kann es schon einmal sein, dass er eben als „Toter“ in der Fußgängerzone liegt, als „Höheres Wesen“ auf einer Leiter steht, ein Auto auseinander baut oder fällige Parkgebühren für andere bezahlt. Backhaus möchte niederschwellig mit den Menschen in Kontakt treten: „Die beste Auslegung eines biblischen Textes ist immer noch das Ausleben.“ 200 missionarische Ideen hat er bis heute umgesetzt.
Glaube im Alltag verankern
Das missionarische Anliegen teilt Backhaus mit seiner Frau. Schon Anfang der 80er Jahre ziehen sie gemeinsam mit zwei anderen Familien in den kleinen Caldener Ortsteil Meimbressen. Sie möchten den Menschen im Dorf dienen. Eine Gemeinde entsteht und Backhaus entwickelt Ferienspiele, organisiert Zeltlager, veranstaltet alternative Gottesdienste und leitet die Jungschar-Arbeit. Backhaus möchte, dass sein Glaube im Alltag verankert ist. 1994 gründen einige Familien die „Christus-Gemeinde am Airport“ – eine Ergänzung „in Gottes bunter Kirchenlandschaft“, wie Backhaus es nennt. Sie kaufen dafür die ehemalige Diskothek des Dorfes und wollen als Gemeinde die Bedürfnisse des Ortes im Blick haben. Praktisch setzen sie dies um mit einer Kleiderkammer für Asylsuchende und dem Winterspielplatz, zu dem bis zu 100 Kinder aus der Umgebung kommen.
Seine Gemeinde erlebt Backhaus als Ort der Liebe, Wertschätzung und Geborgenheit, während sich in der Gesellschaft jeder „zu Tode selbstverwirklicht“. Viele Menschen in der Gemeinde haben eine schwierige Lebensgeschichte: „Konflikte bleiben dabei nicht aus, aber wir wollen ihnen eine Heimat geben.“ So, wie auch er als junger Mann seine Heimat erstmals in einer christlichen Gemeinde gefunden hat.
Backhaus ist es wichtig, dass die Bibel als „Frohe Botschaft“ erkannt wird, die aktuell ist und sich im Alltag bewährt. Um das den Menschen zu verdeutlichen, hat er „kaum etwas Missionarisches unversucht“ gelassen. Auch mit fast 70 Jahren hält er Seminare und Predigten, gibt Konzerte, schreibt Bücher oder plant Straßenaktionen und ist als Missio-Narr, wie er sich selbst bezeichnet, in seinem Element. Im Gegensatz zu den vorbeieilenden Passanten hat er sich schon Gedanken über seinen Tod gemacht. Er ist sich zwar noch nicht ganz sicher, was auf seinem Grabstein stehen soll, aber eines ist klar: auf jeden Fall etwas Humorvolles und Authentisches. Also ganz Arno Backhaus.
Von: Johannes Blöcher-Weil