Avatar statt Familie

465.000 Jugendliche in Deutschland hatten 2018 ein kritisches Spielverhalten am Computer. Durch die Corona-Krise ist die Zahl laut einer Studie der Krankenkasse DAK um 75 Prozent auf über 700.000 gestiegen. Sowohl Forscher als auch Aussteiger warnen vor den Gefahren der Computerspielsucht und davor, das Problem klein zu reden.
Von Johannes Blöcher-Weil
Florian Buschmann

Für Florian Buschmann war es als Kind ganz normal, zu zocken. Schließlich spielte fast jeder 13-Jährige Computer. Der heute 20-Jährige war drei Jahre in der digitalen Welt gefangen. Er tauschte die Langeweile des Alltags gegen die vermeintlichen Vorzüge des Virtuellen. Welche Folgen dies für ihn hatte, beschreibt er in seinem Buch „Ade, Avatar“. 16 Stunden täglich vor dem Bildschirm waren es in Spitzenzeiten. Es braucht nicht viel, um in den Teufelskreis zu geraten, erklärt er. Die Spielmechanismen sind so „gestrickt“, dass die Spieler dranbleiben müssen, um auf Ranglisten nach oben zu klettern und Erfolg zu haben. Vor allem Spiele mit Ranking-Systemen oder sozialen Bindungen schaffen eine Basis für Abhängigkeiten.

Bei Buschmann kamen private Faktoren hinzu. Seine Eltern trennten sich, der Großvater starb. Beim Zocken war er permanent beschäftigt, fand Bestätigung und konnte Probleme ausblenden. Tagsüber meldete er sich in der Schule krank, nachts stellte er sich den Wecker, um bisherige Spielerfolge nicht zu gefährden. Unter der beginnenden Sucht vernachlässigte er sein Ehrenamt als Betreuer einer Kindergruppe. Alles trat zugunsten seiner virtuellen Spielfigur, des Avatars, in den Hintergrund.

Gabi Stein* weiß, wovon Buschmann spricht. Sie hat vor 15 Jahren ihren Sohn „an World of Warcraft“ verloren. „Wir waren hilflos, ohnmächtig und einsam“, erinnert sich Metz. Ihr damals 17-jähriger Sohn habe seine sozialen Kontakte eingestellt und kurz vor dem Abitur die Schule geschmissen. „Er war für uns unerreichbar und hat sich nur noch mit Avataren identifiziert.“ Einmal habe er sie in der Küche körperlich bedroht.

Dann sei er von zu Hause abgehauen und für sechs Wochen spurlos verschwunden: „In unserer Familie haben Miteinander und Vertrauen immer eine große Rolle gespielt. Aber er hat uns angelogen, wo es nur ging. Wir waren völlig hilflos.“ Damals habe es für die Familie keine professionellen Anlaufstellen für das Thema gegeben: „Viele haben uns – gut gemeinte – Tipps gegeben. Weil die Sucht damals noch nicht als Krankheit anerkannt war, haben wir uns auch gegenseitig Schuld zugewiesen“, erzählt Stein im Gespräch mit PRO. Ihr Sohn ist dann bei seinen Eltern aus- und mit seiner Freundin zusammengezogen, mit der er heute verheiratet ist. Zur Familie hat er noch sporadisch Kontakt. Aus Sicht der Mutter ist er noch immer in den Fängen der Sucht.

Buchcover Ade Avatar Foto: privat

Florian Buschmann: „Ade Avatar: Schritte in die Freiheit“, Books on demand, 114 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 9783752667042

Für eine Computerspielsucht hat die Weltgesundheitsorganisation als Kriterien festgelegt, dass der Süchtige seit mindestens zwölf Monaten die Kontrolle über sein Computerspielen verloren hat, dass das Spielen so wichtig geworden ist, dass er andere Interessen und Aktivitäten dafür aufgegeben hat und er trotz gravierender Konsequenzen für sein Leben weiter zockt. „Es ist also weniger die Spielzeit – was zählt, sind die Auswirkungen auf das reale Leben“, erklärt Psychologe Armin Kaser. Er empfiehlt in leichten Fällen feste Tagespläne mit Offline-Zeiten und die Wiederaufnahme alter Hobbys. „Fast alle Computerspielsüchtigen leiden allerdings unter einer psychischen Begleiterkrankung wie Depression oder Angststörungen. Dann ist eine professionelle Behandlung nötig“, betont Kaser.

Kinder müssen sich selbst regulieren lernen

Damit es erst gar nicht zur Sucht kommt, sind Prävention und Aufklärung nötig. Spezielle Handy-Apps messen etwa, wie lange digitale Geräte genutzt werden. Auch Buschmann möchte helfen, dass Menschen erst gar nicht süchtig werden oder den Ausstieg schaffen. Er spricht regelmäßig in Schulen über seine Sucht, auch schon vor Viertklässlern. Kinder lernten spielend den Umgang mit den Medien. Es sei aber genauso wichtig, dass sie sich selbst regulieren und beherrschen lernen. Das Handy sei ihr ständiger Begleiter vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. Selbst Microsoft-Gründer Bill Gates und der verstorbene Apple-Chef Steve Jobs hätten auf begrenzte Bildschirmzeit ihrer Kinder geachtet.

Typische Merkmale einer Internetsucht:

» ein zwanghafter, häufiger Drang, sich ins Internet einzuloggen
» Rückzug aus dem Sozialleben
» Kontrollverlust: Selbst wenn der Betroffene es möchte, schafft er es nicht, seinen Internetkonsum einzuschränken
» Nachlassende Leistungsfähigkeit in der Schule oder bei der Arbeit
» Reizbarkeit oder Niedergeschlagenheit, wenn der Betroffene nicht online sein kann
» Verheimlichen oder Herunterspielen, welches Ausmaß die Internetnutzung hat
» Häufige körperliche Probleme einer Internetsucht sind Fehlhaltungen, Verwahrlosung, Übergewicht, Schlafstörungen und Kopfschmerzen

Hilfe bei Computerspielsucht gibt es unter anderem beim „Fachverband Medienabhängigkeit“. Dort finden Betroffene und Angehörige Beratungs- und Anlaufstellen, die in der geographischen Nähe auf das Thema Medien­abhängigkeit spezialisiert sind.

Aktuelle Studien zeigten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Gewaltdarstellungen und realer Gewalt, sowohl bei Computerspielen als auch bei Filmen und Comics, erklärt Psychologe Kaser. Buschmann wünscht sich dennoch eine klare Altersbeschränkung für Social-Media-Plattformen und Computerspiele: „Mit Ausnahme von Messengern sollten sie alle ab 14 Jahren sein.“ Gewaltspiele sollten frühestens 18-Jährige spielen: „Ihre Wirkung wird massiv unterschätzt. Spieler lernen dort, dass Gewalt nicht schlimm ist.“ Ego-Shooter würde er komplett verbieten. Sie gehörten nicht in Kinderzimmer und vermittelten weder Nächstenliebe noch Wertschätzung.

Lieber die echte Welt genießen

Der Preis der Sucht sei enorm hoch. Er selbst habe alle sozialen Kontakte und das Interesse am realen Leben verloren. Und er habe eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickelt und zu Selbst­überhöhung geneigt. Um diese Verhaltensmuster wieder loszuwerden und zu einem normalen Leben zurückzukehren, brauche es viel Zeit. Buschmann hat irgendwann ohne Therapie einen radikalen Schnitt gemacht. Heute nimmt er seine Termine möglichst ohne Handy wahr. Es zieht ihn viel lieber in die Natur.

Bis zu seinem 14. Lebensjahr sah Buschmann alles Religiöse kritisch. Bis ein Ausflug mit dem Fahrrad im Koma endete. Er hatte ein Nahtod-Erlebnis. Buschmann erinnert sich an eine Begegnung mit Gott. Dieser habe ihn gefragt, ob er leben wolle, und Buschmann habe energisch mit „Ja!“ geantwortet. Der damals 14-Jährige erwachte später und blickte nach der Reha-Zeit auf ein Wunder zurück. Bei der Aufarbeitung der Sucht hätten ihm die christlichen Werte geholfen. Heute studiert er in Dresden Psychologie. Seine Erfahrungen sind sein Antrieb, über die Online-Sucht und ihre Folgen aufzuklären. Menschen jedes Alters seien davon betroffen. „Es wäre doch schade, wenn sie ihr Leben virtuell vergeuden und nicht die Schönheit der Schöpfung entdecken.“

*Name von der Redaktion geändert

Der Artikel ist im Christlichen Medienmagazin PRO erschienen, das Sie unter der Telefonnummer 06441/5667700 oder online kostenlos bestellen können.

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Eine Antwort

  1. „Lieber die echte Welt geniessen“
    Deshalb sollte man Kinder besser eine Mitgliedschaft bei den christlichen Pfadfindern ermöglichen, als ihnen ein Handy zu kaufen …
    Dr. Frank Fischer, Oberarzt auf der Suchttherapiestation Teen Spirit Island im Kinderkrankenhaus auf der Bult, hält es für am Wichtigsten, dass Eltern mit ihren Kindern in Kontakt bleiben und die Heranwachsenden bei ihrem Umgang mit den Medien begleiten. Sie sollten wissen, welche Spiele und Apps die Kinder auf ihrem Smartphone nutzen und mit wem sie chatten.
    Sein erster Rat, wenn es darum geht, Kinder mit Bildschirm-Medien zu konfrontieren: „Je später, desto besser.“
    https://www.haz.de/Mehr/Gesundheit/Fit-Gesund-Hannover/Gesund-aufwachsen/Der-Mediensucht-bei-jungen-Menschen-vorbeugen

    Um von Mediensucht loszukommen bedarf es oft professioneller Hilfe. Umso erschreckender, dass die notwendige finanzielle Unterstützung, um solche Hilfe zu ermöglichen, aus ideologischen Gründen von bestimmter Seite verweigert wird. Die SPD hat in Hannover der „Fachstelle für Mediensucht“ („return“) weitere Hilfe vorenthalten:
    „return“-Leiter Eberhard Freitag ist entsetzt – und versteht diese Politik nicht. In diesem Jahr habe „return“ an die 800 Gespräche in den Beratungsräumen an der Kirchröder Straße geführt.
    https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Stadt-HAnnover-will-return-nicht-mehr-foerdern

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