Wenn in Paderborn alljährlich das neun Tage währende „Libori“-Fest eröffnet, steht die Stadt kopf. Das Ereignis, das auf einen mittelalterlichen Heiligenkult zurückgeht, ist nicht nur eines der größten Volksfeste in Deutschland, sondern auch eines der ältesten. Im Jahr 836 sollen die Gebeine eines verstorbenen Mannes namens Liborius aus dem französischen Le Mans nach Paderborn gebracht worden sein.
Auch wenn so gut wie nichts Biografisches über diesen Herrn bekannt ist und es nur eine Legende gibt, die von einem Pfau handelt, wird er von den Katholiken als Heiliger verehrt, seine sterblichen Überreste werden Jahr für Jahr in Paderborn herumgetragen.
Auch wenn die Heiligenverehrung nicht biblisch begründbar ist und Jesus laut Neuem Testament wohl eher eine Abneigung gegen Totenkult hatte und dafür plädierte, sich um das diesseitige und das jenseitige Leben zu kümmern, ist alljährlich die letzte Juli-Woche im katholisch geprägten Paderborn von diesem Kult und der daran anschließenden Kirmes und den Marktständen eingenommen.
Die Heiligenverehrung in der katholischen Kirche geht bekanntermaßen weit über eine bloße Respektbezeugung gegenüber Verstorbenen hinaus. Das Zweite Vatikanische Konzil integrierte die Heiligenverehrung in ein Kirchenverständnis, das trinitätstheologisch und christologisch begründet ist. Eine Reliquie ist definiert als Ziel kultischer religiöser Verehrung. Vor allem waren und sind Reliquien seit dem Mittelalter ein einträgliches Geschäft für Städte.
Die großen Kathedralen des Mittelalters verdanken ihre Entstehung und ihren Ruhm vor allem hochverehrten Reliquien. Vor allem im Mittelalter wurden den Knochen Verstorbener viele Wunder zugesprochen. Gott bedient sich nach katholischer Auffassung der Überreste der Verstorbenen als Mittel, durch das er Wunder tut.
Entspannter Jesus am Flughafen
Das Libori-Fest haben das katholische Dekanat Paderborn, die Innenstadtpfarrei St. Liborius, das Erzbistum Paderborn und das Paderborner Citymanagement dieses Jahr zum Anlass genommen, auch das Thema Künstliche Intelligenz in einer Ausstellung zu thematisieren. Vom 23. bis zum 27. Juli ist die Ausstellung mit dem Titel „KI in Kirche und Gesellschaft – zwischen Schöpfung und Source Code“ in der Gaukirche in Paderborn, direkt am Dom, kostenlos zu besichtigen.
Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik-Mechatronik (IEM), das ebenfalls in Paderborn ansässig ist, haben die Verantwortlichen Bilder von einer KI erzeugen lassen, die unter anderem Jesus im modernen Kontext darstellen.
Jesus, der entspannt lächelnd aus einem Flugzeug steigt, ist auf den Bildern zu sehen, von einer jubelnden Menge begrüßt; Jesus, der an einem Laptop sitzt; Jesus, der ein Selfie von sich und dem Kreuz macht. Derlei Fotos machten bereits vielfach die Runde im Internet, als immer mehr Nutzer die Mächtigkeit von KI-Werkzeugen wie ChatPGT und Midjourney entdeckten.
Das Thema „Welche Möglichkeiten bietet Künstliche Intelligenz (KI) in der Kirche und der Arbeitswelt?“ solle die Ausstellung in der Paderborner Kirche behandeln – ausgestellt sind aber lediglich Fotos, die von einer KI generiert wurden.
Würde ein Roboter eine mechanische Kerze anzünden?
„Ziel ist es, die technologischen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz aufzuzeigen und gemeinsam mit den Besuchenden Chancen, Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch Herausforderungen und Grenzen der Technologie zu diskutieren“, hieß es in der Ankündigung.
Bei der Eröffnung am Sonntag demonstrierten die Veranstalter auf einer Leinwand, wie die KI-Fotos entstanden sind. Im Textfenster von ChatGPT wurde entsprechend die Anfrage gestellt, ein Bild zu erzeugen, das Jesus im modernen Kontext zeigt; damit verbunden der Auftrag, eine entsprechende Anfrage an das Bildgenerierungswerkzeug Midjourney zu erstellen.
Diese wiederum generiert dann das Bild. Am Montag und Dienstag sollen in der Kirche Mittagsgebete stattfinden, in denen auch vom KI-Bot ChatGPT Texte erstellt wurden. Am Mittwoch und Donnerstag sind Besucher zudem eingeladen, in einer Gesprächsrunde über KI zu diskutieren.
Kaum ein Thema beschäftigt die Gesellschaft derzeit so wie Künstliche Intelligenz, und die Debatten darüber sind noch lange nicht abgeschlossen. Denn damit verbunden sind nicht nur gesellschaftsverändernde Fragen, sondern auch philosophische, ethische und religiöse.
Vor kurzem hat die Theologin und Philosophin Anna Puzio zu diesem Thema ein Buch herausgegeben: „Alexa, wie hast du‘s mit der Religion? Theologische Zugänge zu Technik und Künstlicher Intelligenz“. An das Thema KI sind weitere Themen wie (teil-)autonomes Fahren, autoregulative Waffensysteme, Enhancement und humanoide Robotik, verknüpft, zeigen die Autoren.
„Die rasanten technologischen Entwicklungen wecken ein Orientierungsbedürfnis“, schreibt Puzio. Die Autoren gehen der Frage nach, inwiefern die Theologie hier angesprochen wird und wie sie sich eigentlich dazu verhält. Im Transhumanismus „wimmele“ es geradezu von religiösen Fragestellungen: Heilsvorstellungen, Hoffnung auf die Beseitigung von Leid, kognitive und moralische Verbesserung des Menschen, Auferstehungsmotive, Allmachtsfantasien, gottähnliche Technik, Paradiesvorstellungen und das Streben nach Unsterblichkeit, Sexrobotik und religiöse Robotik, um nur einige zu nennen.
Wichtige Fragen bleiben offen
Manche Theologen sehen Aspekte des Menschseins und der Religion bedroht. In der Bevölkerung sind Angst, Abwehr und Skepsis verbreitet. Und das nicht etwa vornehmlich wegen von KI generierten Fotos.
Noch interessanter wäre auch in der Paderborner Ausstellung die Frage gewesen: Wie können Kirchen und Religionsgemeinschaften KI und Technik einsetzen? Puzio und ihre Kollegen geben darauf seitenweise Antworten (Beispiele: in der Veranstaltungsorganisation, für Prognosen und Prozessoptimierung, für Strategieentwicklung und Marketing, Texterkennung und Textgenerierung, Musikkomposition, Übersetzungen, für Bibelarbeiten und Bibelforschung sowie Wissensmanagement).
Ganz zu schweigen von den immens wichtigen philosophischen Fragen wie: Haben Roboter und KI ein Bewusstsein, einen freien Willen, Wünsche, gar religiöse Gefühle? Es gibt manche Experten, die KI ein Bewusstsein und damit gewisse (Menschen-)Rechte zusprechen. Nicht nur Elon Musk baut längst einen menschenähnlichen Roboter namens „Optimus“, viele Silicon-Valley-Firmen verfolgen die Ziele des „Transhumanismus“, also der stetigen Verbesserung des Menschen durch Technik.
Ebenso stellte der Schweizer Theologe Oliver Dürr in seinem Buch „Transhumanismus – Traum oder Alptraum?“ vor kurzem all jene Fragen, die sich gerade Kirchenleute und Philosophen anschauen sollten.
In der Ausstellung in Paderborn zum „Libori“-Fest galt es offenbar lediglich, all jene Besucher zu beeindrucken, die noch nie von KI generierte Bilder gesehen haben. Da ist viel Potenzial vergeudet. Die Kuratoren einer Ausstellung, die den Anspruch erhebt, die Schnittstelle zwischen Kirche und KI zu beleuchten, hätten aus einem unendlichen Pensum an möglichen Fragen schöpfen können.
Aber was genau soll denn ein fotorealistisches, künstlich generiertes Bild von Jesus am Laptop aussagen? Ein Jesus mit Handy in der Hand, ein Jesus vor einem Flugzeug? Und was hat das KI-generierte Bild eines „Libori-Pfaus“ mit unserer heutigen Gesellschaft zu tun?
KI sei, so schreibt Anna Puzio in ihrem Buch, gut mit der katholischen Theologie vereinbar. Sie macht das an einem Beispiel deutlich. Der katholische Brauch, in der Kirche eine Kerze anzuzünden, wurde in einigen Kirchen mit einem Gimmick verbunden: Nicht einmal das Anzünden der Kerze ist heute zwingend erforderlich, es reicht manchmal, eine Münze in einen kleinen „Kerzen-Automaten“ zu werfen, und wie von selbst beginnt daraufhin eine kleine Lampe zu flackern.
Im Katholizismus komme es eben immer auf einen Mittler an, schreibt Puzio. Nicht man selbst steht vor Gott, sondern man muss eine Tat vollbringen, seine Pflicht erfüllen oder eben einen Heiligen anrufen, der vielleicht auch schon vor 1.600 Jahren verstarb. Vielleicht wäre schon allein der Unterschied in der KI-gestützten Religionsausübung zwischen Katholizismus und Protestantismus eine eigene Ausstellung wert.
Als der Chat-Bot ChatGPT am Sonntag in der Paderborner Gau-Kirche mit einem Bibelvers gefüttert werden sollte, geriet der Mitarbeiter aus Versehen in das Online-Angebot einer Luther-Bibel, anstatt in das der Einheitsübersetzung – und durch die Veranstalter zuckte kurz ein Schreck-Moment.
In einer katholischen Kirche, im katholischen Paderborn, während des höchsten katholischen Festes, ausgerechnet den Kirchenreformer Martin Luther vorkommen lassen? Auf den Fauxpas angesprochen, brach längeres Gelächter unter den Besuchern aus. Dann kehrte wieder Beruhigung ein. Eines ist jedenfalls klar: Im Protestantischen würde man keine mechanische Kerze anzünden, um Gott näher zu sein.