Meinung

Aufklären statt Verbannen

Der Ravensburger-Verlag nimmt Winnetou-Produkte aus dem Verkauf, weil sie Gefühle verletzt haben. Das ist der falsche Weg, mit etablierten stereotypen Motiven der Literatur- und Kunstgeschichte umzugehen.
Von Anna Lutz

Klischeehaft, verkitscht und unsensibel: All das sind die Geschichten rund um den Indianerhäuptling Winnetou und seinen weißen Freund Old Shatterhand ohne Zweifel. Aus heutiger Sicht.

Machte sich ein Autor im Jahr 2022 an die Arbeit, um einen Jugendroman über amerikanische Ureinwohner und ihre Beziehung zur weißen Bevölkerung der USA im 19. Jahrhundert zu verfassen, so käme das Wort Indianer vermutlich gar nicht vor. Es ginge nicht darum, wie zwei Männer unterschiedlicher Hautfarben einträchtig durch die Prärie ritten und den Wilden Westen gemeinsam zu einem besseren Ort machten.

Stattdessen würde sich der Autor mit der Unterdrückung der Indigenen beschäftigen. Er würde jene finsteren Ecken in der Geschichte US-Amerikas beleuchten. So, dass auch Kinder es verstünden. Aufklären. Aufarbeiten. Aufräumen.

Oder er würde erst gar nicht mit dem Schreiben anfangen, weil eine Geschichte über ein heikles Thema wie Cowboys und Indianer beim Gebrauch unbedachten, verfänglichen oder gar verletzenden Vokabulars dieser Tage rasch zum Ende der literarischen Karriere führen kann. Dann lieber doch eine Geschichte über Kuscheltiere, die zum Leben erwachen, oder Fantasiemonster, die in finsteren Wäldern leben. Da ist weit weniger falsch zu machen.

Jüngst hat der Ravensburger-Verlag Schlagzeilen gemacht: Aufgrund von „vielen negativen Rückmeldungen“ habe man festgestellt, dass einige Winnetou-Titel in Neuauflage für Kinder „Gefühle anderer verletzt haben“. Die Bücher zum aktuellen Winnetou-Film, der im August in den Kinos startete, sind aus dem Programm genommen worden. Und der Verlag hat sich öffentlich entschuldigt.

Rassismus bei Pippi Langstrumpf

Was hier im Einzelnen anstößig war, ist nicht bekannt. Doch die Debatte geht weit über diesen Fall hinaus. Das Prinzip Canceln ist en vogue. Besonders in den USA machten in den letzten Monaten immer wieder Fälle Schlagzeilen, in denen literarische Werke aus Schulbibliotheken oder gar durch aus Verlagshäusern verbannt wurden, etwa der Comic „Maus“ oder verschiedene Kinderbücher des im englischen Sprachraum populären Autors Theodor Seuss Geisel. Es ist eine Frage der Zeit, bis diese Entwicklung nach Deutschland schwappt. Nicht nur die Bücher von Karl May sind nach Meinung gewisser linker Bewegungen problematisch. Auch Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf könnte aufgrund rassistischer Motive einer Zensur zum Opfer fallen. Als unangemessen könnte auch der Struwwelpeter gesehen werden. Oder die Märchen der Gebrüder Grimm.

Dabei vergessen all jene, die diese Geschichten gerne aus dem kollektiven Gedächtnis auslöschen möchten, dass sich künstlerische und kulturelle Entwicklungen von jeher schwer steuern und erst recht nicht im Nachhinein verändern lassen. Astrid Lindgren hat das N-Wort benutzt. Karl May das I-Wort. Das macht beide noch nicht zu Rassisten. Sie waren Kinder ihrer Zeit, einer Zeit, von der wir heute wissen, dass ihre Akteure bestimmte sprachliche Sensibilitäten haben missen lassen. Das ist bedauerlich und verletzt ohne Zweifel Gefühle. Aber dennoch sind diese Erzählungen ein Teil Kulturgeschichte. Teil unseres Erbes, mit dem wir umgehen müssen.

Ich für meinen Teil lese meinen drei Töchtern Pippi Langstrumpf vor. Weil es eine Geschichte über ein starkes, eigenständiges Mädchen ist. Feminismus, wie er im besten Sinne sein sollte. Liebevoll und zugleich bestimmt. Auf eine Weise dargestellt, dass auch kleine Kinder verstehen: Du musst nicht in Schubladen passen, die die Gesellschaft dir zuweist. Du darfst anders sein, bunt, wild, verrückt und wunderbar.

Und wenn wir dann beim Lesen zum N-Wort kommen, dann erkläre ich meinen Kindern, dass man das heute nicht mehr sagt, weil es Menschen verletzt. Ich erkläre ihnen, wie People of Colour – ebenso wie Frauen übrigens – bis heute unter gesellschaftlichen Vorurteilen und politischen Repressionen leiden. Und dann haben die drei am Ende bestenfalls nicht nur etwas über Feminismus, sondern auch etwas über den Kampf gegen Rassismus gelernt.

Zusatzmaterial bereitstellen

Ich habe einen Vorschlag für den Ravensburger-Verlag: Nehmt die Artikel, die Gefühle verletzt haben, nicht aus dem Verkauf. Verseht sie stattdessen mit Anmerkungen oder kleinen Aufgaben zum Thema Rassismus, die Eltern und Kinder gemeinsam durchgehen können. Werdet eurer Verantwortung im Umgang mit literarischem Material gerecht und klärt auf, statt zu verbannen.

Denn Winnetou bleibt Winnetou. Klischees und Kitsch bleiben im kollektiven Gedächtnis. Aber auch jene große Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft zweier unterschiedlicher Männer, die eigentlich Feinde hätten sein müssen. Sie macht den Wert von Karl Mays Werk aus – auch wenn sie heute nicht ohne Fußnote gelesen werden kann.

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8 Antworten

  1. Danke für diese differenzierten Gedanken.

    Auch von Dr. Johannes Hartl gibt es zum Thema Toleranz einen hörenswerten Beitrag:
    „Verlernen wir die Meinungsfreiheit?
    Falls ja: wie können wir richtiges Diskutieren wieder lernen?
    In diesem Video gebe ich meinen Senf zu klassischen Pseudoargumenten und Denkfehlern, die uns von gehaltvollem Austausch und Toleranz abhalten.“
    https://www.youtube.com/watch?v=nu_E_3a59bc

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  2. Karl May, und auch Astrid Lindgren waren beide ausnehmende Menschenfreunde.
    Sie nun anhand heutiger Spachtabus als unsensibel verurteilen zu wollen wird ihnen überhaupt nicht gerecht. Haben beide doch gerade kulturelle und rassische Grenzen durch ihre Helden beispielhaft überschreiten lassen und Fremden mit Wertschätzung begegnen lassen.
    Hier erwarte ich vom heutigen Leser schon die Fähigkeit, zeitbedingte Wortwahl, Stereotype und Weltanschauung im Kontext angemessen einordnen zu können.
    Man muss nicht alles mit einem „Warnhinweis“ und Anleitung zur „korrekten Sichtweise“ versehen, – weil man dem Leser weder moralische Maßstäbe noch Urteilsvermögen zutraut?

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  3. Bin als als Kind/ Jugendlicher „Karl-May_Fan“ geworden – bin es noch heute.

    Manchmal fühle ich mich in die Dystrophie von Orwell’s „1984“ hineinversetzt…

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  4. „Sie waren Kinder ihrer Zeit, einer Zeit, von der wir heute wissen, dass ihre Akteure bestimmte sprachliche Sensibilitäten haben missen lassen. Das ist bedauerlich und verletzt ohne Zweifel Gefühle. “ Das ist so nicht richtig. Die Autoren waren in ihrer Zeit durchaus nicht unsensibel, sondern werden heute von einer kleinen, aber umso lauteren daueraufgeregten Minderheit als unsensibel angeprangert. Darauf muss man sicht nicht einlassen, schon gar nicht, indem man harmlose Bücher vom Markt nimmt oder für Eltern und Kinder Triggerwarnungen oder Fußnoten einfügt. weil man sich nicht mehr traut, etwas auf den Markt zu bringen, ohne die Leserschaft ans pädagogische Händchen zu nehmen und ihr dazu zu verhelfen, das „Richtige“ zu denken. Dadurch verbeugt man sich leider nur vor den inqusitorischen Forderungen der Shitstorm-Protagonisten.

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  5. Anna Lutz bringt es auf den Punkt. Sehr gut geschrieben und die Anregungen für den Verlag am Ende auch sehr hilfreich.

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  6. Karl May ist bei den Linken traditionell verpönt. Die DDR hatte ein Problem mit den erfolgreichen Filmen in denen Pierre Brice Winnetou spielt. Wir wissen heute dass die Bücher der Phantasie von Karl May entspringen und die Apatchen nicht so friedlich waren, wie Karl May sie beschreibt.
    Wie sagte Herr Broder, es ist doch schön, dass wir keine Probleme haben, keine Inflation und eine befriedete Ukraine, dass wir uns mit so etwas beschäftigen, so frei zitiert.

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