pro: Sie beschreiben Konservatismus vor allem als Haltung. Was bedeutet das?
Andreas Rödder: Konservatismus ist nach meinem Dafürhalten in erster Linie eine Haltung zum Wandel. Schon bei seinem Vordenker Edmund Burke war das so. Er formulierte Konservatismus als eine Reaktion auf die Französische Revolution. Konservative akzeptieren, dass sich Vorstellungen und Maßstäbe wandeln. Sie handeln mit Maß und Mitte und nicht nach ideologischen Vorstellungen oder irgendwelchen Utopien. Der Konservatismus pflegt ein Menschenbild, das dem christlichen sehr ähnlich ist, vor allem in der Vorstellung vom unvollkommenen Menschen. Und er gibt der Gesellschaft den Vorrang vor dem Staat. Das schlägt sich politisch im Subsidiaritätsprinzip nieder, das dem Einzelnen, der Familie oder auch der Bürgergesellschaft eine hohe Eigenverantwortung im Verhältnis zum Staat zuschreibt. Typisch für Konservatismus ist auch: Es gibt gegenüber vielen Fragen keine vorgegebene inhaltliche Position.
Wo wird konservatives Denken konkret?
Nehmen wir die Familienpolitik. Ein Konservativer fragt sich: Wo gibt es Verbesserungsbedarf und wo muss man Dinge belassen? Zur Politik der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen vor zehn Jahren hätte ein Konservativer gesagt: Wir müssen erkennen, dass es Familien gibt, die Bedarf an außerfamiliärer Betreuung von Kleinkindern haben, der bisher gesellschaftlich nicht bedient wird. Im Sinne der Selbstbestimmung von Familien müssen wir da etwas tun. Er würde aber zugleich gesagt haben: Aus demselben Grund wollen wir nicht die Eltern benachteiligen, die ihre Kleinkinder selbst betreuen wollen. Konservative Politik wäre gewesen, sowohl außerfamiliäre Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu erweitern, als auch die traditionelle Familie wertzuschätzen. Aber dieses ideologische Umschwenken bis hin zum Kulturkampf gegen die traditionelle Familie hätte in christdemokratischer oder konservativer Politik nicht passieren sollen.
In Ihrem Buch „Konservativ 21.0“ machen Sie sich für eine Leitkultur stark. Ist es typisch konservativ, eine Leitkultur einzufordern?
Es wirkt politisch so, auf den ersten Blick. Man schreibt diesen Begriff eher Konservativen zu – und unterstellt zugleich einen Nationalismus, in dem sich alle gleich verhalten sollen. Aber die Linke pflegt ebenso eine Leitkultur, schauen Sie sich „Fridays for Future“ an oder die ganze Kultur des Regenbogens. Sie praktiziert ja nichts anderes, indem sie ihre kulturellen Vorstellungen als bestimmend durchsetzt. Das ist nicht propagierte, aber praktizierte Leitkultur.
Wo ist die Grenze zwischen einer konservativ gedachten Leitkultur und einer Art Deutschtümelei?
Ich halte den Begriff Leitkultur für richtig, weil jede Gesellschaft Orientierungsstandards braucht, die das gesellschaftliche Zusammenleben überhaupt möglich machen. Viele Leute sagen, wir haben doch das Grundgesetz, das ist Leitkultur genug. Aber es gibt Regeln des Zusammenlebens, die stehen in keinem Grundgesetz. So einfache Dinge wie die, dass man sich nicht wegschubst, wenn man in die Straßenbahn einsteigt, dass man zuhört, wenn der andere spricht. Die Frage ist: Reden wir von einer Leitkultur, die andere einbindet oder die sie ausschließt? Im zweiten Fall würde es heißen: Wir sind drin, und ihr seid draußen, und das bleibt ihr auch. Das wäre nationalistische Deutschtümelei. Oder man versteht sie als kulturelle Anforderung an alle. Ich bin zum Beispiel vehement für die Sprachtests für Kinder vor der Einschulung, um sicherzustellen, dass man Defizite im Spracherwerb frühzeitig beheben kann. Das sollte für Migrantenkinder ebenso gelten wie für EU-Ausländer und deutsche Kinder. Als Bildungspolitiker bin ich der Meinung, es braucht eine neue Bildungsoffensive, die vor allen Dingen auf migrantische Schichten zielt, um ihnen noch besser den Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Eine offene Gesellschaft und das Einfordern ihrer Standards, beides zusammen ist in meinen Augen der Kern eines modernen konservativen gesellschaftspolitischen Denkens.
Der Begriff „konservativ“ hat in der öffentlichen Wahrnehmung etwas Anrüchiges. Woher kommt das Misstrauen demgegenüber?
Durch die Erschütterung des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Sündenfall der deutschen Konservativen damals. Sie haben sich in Gestalt der konservativen Revolution und der klassischen konservativen Eliten in den frühen Dreißigerjahren dem Nationalsozialismus angedient. Eigentlich hätten die Konservativen von ihren Werten her genauso antinationalsozialistisch sein müssen, wie es die christlichen Kirchen hätten sein müssen. Waren sie aber nicht. In England ist das anders. „To be conservative“ ist kein Problem in Großbritannien.
Wie bewerten Sie die Rolle der Medien für diese öffentliche Wahrnehmung des Konservativen?
Die leitenden Organe der Medien haben erheblich zu dieser Spaltung der Öffentlichkeit beigetragen. Auf der einen Seite befördern viele Medien einen linken Moralismus, auf der anderen Seite genau dadurch das Ressentiment der Rechten. Es gibt Untersuchungen darüber, dass weite Teile der Medien in der Migrationskrise 2015 sich selbst zur Partei gemacht haben und selbst politisch aktiv geworden sind.
Die Kanzlerin hat einmal gesagt: Das Internet ist Neuland. Ist das nicht ein Offenbarungseid für den Konservatismus, mit globalen neuen Trends überhaupt nicht umgehen zu können?
Nein, es ist kein Offenbarungseid, weil das Neuland für alle ist. Für Konservative genauso wie für Linke. Die Hass-Orgien in den Sozialen Medien machen ja an den politischen Grenzen nicht halt. Es ist die Herausforderung an Konservatismus, zu solchem Neuland sprachfähig zu werden. Das heißt eben nicht, für die Schulen nur Milliarden zu verpulvern, damit sie für alle Schüler Laptops und Tablets kaufen können. Konservatives Bewahren heißt, die Substanz bewahren, gerade im digitalen Zeitalter. In der Bildung ist das das Ideal des eigenständig urteilsfähigen Menschen. Die moralisch-ethische Urteilsfähigkeit dürfen wir nicht aus der Hand geben, die will ich keinem Algorithmus überlassen.
Sie schreiben, der Konservatismus ist menschenfreundlich. Das würden wahrscheinlich auch andere von sich behaupten. Was ist beim Konservativen anders?
Diese Menschenfreundlichkeit liegt darin, den Wandel verträglich zu gestalten. Im Gegensatz zu einer Haltung, die den Wandel unterdrücken will, was ihr nicht oder nur mit Zwang gelingen wird; aber auch unterschieden von denen, die eine neue Welt erschaffen wollen. Auch sie werden das nur mit Zwang erreichen. Und da sind wir im Grunde wieder bei der goldenen Mitte zwischen den Extremen. Das ist der eigentliche Kern von Menschenfreundlichkeit.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellten Norbert Schäfer und Jonathan Steinert
Dr. Andreas Rödder, Jahrgang 1967, ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Er ist Mitglied in der CDU und im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung. In seinem Buch „Konservativ 21.0“, das 2019 im Verlag C.H. Beck erschien, skizziert er eine Agenda für eine moderne konservative Politik in Deutschland.
Lesen Sie das Interview auch in der Printversion in der neuen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich hier oder telefonisch unter 06441/5667700.