Attentat von München 1972: Schatten über Olympia

Die Bundesrepublik präsentiert sich 1972 als weltoffenes Gastgeberland der Olympischen Spiele in München. Dann geschieht das Unfassbare: Am 5. September dringen palästinensische Terroristen ins olympische Dorf ein und ermorden am Ende elf israelische Sportler. Die Bilder sind bis heute präsent, die Wunden wollen nicht verheilen.
Von Christoph Irion

Es ist die Nacht von Montag auf Dienstag, vier Uhr ist vorbei. Eine laue Spätsommernacht im Olympischen Dorf in München, 5. September 1972. „Keine besonderen Vorkommnisse“, notiert die Nachtschicht des Ordnungsdienstes. Diesen Eindruck hat auch die kanadische Schwimmerin Karen James (19), als sie sich zusammen mit drei Teamkameraden von Westen her dem Zaun des Olympischen Dorfs nähert. Der offizielle Eingang liegt einige Hundert Meter weit entfernt, also beschließen die Olympioniken, einfach rüberzuklettern. Dann sieht Karen James vier Männer. Sie wirken nicht wie Sportler, sehen eher schmächtig aus. Auch sie klettern über den Zaun, niemand sagt etwas.

Die Männer in den Trainingsanzügen ohne Länderkennung wohnen nicht im Olympischen Dorf, sie sind im traditionsreichen Hotel Eden Wolff am Hauptbahnhof abgestiegen. In ihren Olympiataschen tragen sie keine Sportklamotten, sondern Kalaschnikows und Handgranaten. Eine halbe Stunde später gehören die „heiteren Spiele unwiderruflich der Vergangenheit an“, wie es Münchens ehemaliger Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ausdrücken wird. Eine Putzfrau hat kurz nach fünf Uhr Schüsse im Haus Connollystraße 31 gehört, in dem die Männermannschaft aus Israel wohnt. Insgesamt acht Mitglieder der palästinensischen Terror-Organisation „Schwarzer September“ sind in das Haus eingedrungen.

Der „Schwarze September“

Das Terrorkommando, das den blutigen Anschlag auf das israelische Olympiateam 1972 in München verübte, gehörte zur „Organisation Schwarzer September“. Sie hatte bereits 1971 Flugzeuge entführt. Diese militante Gruppierung, die der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“ (PLO) von Jasser Arafat nahestand, leitete ihren Kampfnamen von den gewalttätigen Auseinandersetzungen 1970 in Jordanien ab. Die als „Schwarzer September“ oder „Jordanischer Bürgerkrieg“ bezeichneten Kämpfe zwischen jordanischen Sicherheits- und Streitkräften sowie Beduinenverbänden gegen die palästinensischen Guerillas und syrische Truppen eskalierten im September 1970. Nach Israels Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967 hatten palästinensische Milizen zunehmend Jordanien okkupiert. Palästinenser stellten dort seinerzeit die Bevölkerungsmehrheit. Ein Mordanschlag auf König Hussein scheiterte, Jordanier bombardierten im Gegenzug Flüchtlingslager. Die Gefechte endeten mit der Vertreibung der palästinensischen Organisationen. Der Bürgerkrieg forderte nach Angaben des palästinensischen Roten Halbmonds 3.440 Todesopfer, andere Quellen sprachen von 4.500 oder bis zu 12.000 Toten (Die Zeit). Die Terrorgruppe „Schwarzer September“, die noch mindestens bis ins Jahr 1973 in Nahost und Europa blutige Anschläge verübte, wurde im Laufe der Jahre vom israelischen Geheimdienst Mossad zerschlagen. Ein Großteil der Mitglieder wurde von Agenten einer Spezialeinheit mit Namen „Caesarea“ in verschiedenen Staaten Europas aufgespürt und getötet. Bei den Vergeltungsaktionen gegen Drahtzieher und Mitglieder des „Schwarzen September“ kamen auch Unschuldige ums Leben. Chef dieser Mossad-Mission war der spätere israelische Premierminister und Verteidigungsminister Ehud Barak. Die Organisation „Schwarzer September“ soll sich um 1988 aufgelöst haben. (iri)

Josef Gutfreund (40), ein 142 Kilo schwerer Ringkampfrichter, hört ein Knirschen an der Appartementtür. Plötzlich sieht er bewaffnete Männer mit Skimasken. Der Israeli realisiert sofort, was los ist. „Rennt, Jungs!“, brüllt er und wirft sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die blaue Tür. Die Angreifer haben einen Gewehrlauf in den Spalt gerammt, hebeln die Tür auf, alles in Sekundenschnelle. Ein Israeli kann unter Gewehrfeuer fliehen – zehn Minuten später durchsiebt eine weitere Salve den Oberkörper des 32-jährigen Ringers Mosche Weinberg. Er hatte versucht, einen Angreifer zu überwältigen, seine Leiche werfen die Terroristen vor die Haustüre. Die Palästinenser haben jetzt zehn israelische Geiseln in ihrer Gewalt. Doch auch der Gewichtheber Josef Romano (32) widersetzt sich, die Terroristen lassen ihn vor den Augen der Freunde verbluten.

Der Ort des Überfalls: Auch 50 Jahre nach dem Attentat kommen jeden Tag Menschen zum Haus Conollystraße 31 im Olympischen Dorf in München, um den ermordeten israelischen Sportlern zu gedenken

Unmittelbar danach übergeben die Terroristen ihre Forderungen: Sie verlangen die Freilassung von mehr als 200 in Israel einsitzenden Arabern sowie der in Deutschland inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof.

Walther Tröger (43), Bürgermeister des Olympischen Dorfes, wird geweckt. Er wird an diesem Tag neben dem damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher der einzige sein, der sowohl mit Terroristen als auch mit den Geiseln spricht. „Diese Eindrücke und diese Bilder sind latent immer da“, berichtete Tröger (1929–2020) vor seinem Lebensende im Gespräch mit dem Autor: „Das kann ich nie ganz vergessen.“ Der Anführer, der sich selbst „Issa“ (arabisch für Jesus) nannte und einen weißen Sonnenhut trug, sei „durchaus nicht unsympathisch gewesen: Er hat fließend Deutsch gesprochen. Er wirkte sehr konzentriert, aber man merkte auch, dass er unter Druck war.“

Die Terroristen drohen mit der Erschießung der Geiseln. Genscher, Tröger sowie Bayerns Innenminister Bruno Merk und dem Münchener Polizeipräsidenten Manfred Schreiber gelingt es mehrfach, die Ultimaten zu verlängern. Sie bilden den improvisierten Krisenstab. Schreiber hat als Sicherheitschef der Spiele vor Monaten einen Mitarbeiter abgekanzelt, der verlangt hatte, einen Überfall arabischer Freischärler auf das Olympische Dorf zu simulieren – nun ist Schreiber exakt in diese Situation geraten und völlig überfordert. Während sich hinter den Absperrungen Reporter, Kamerateams, Fotografen und Schaulustige tummeln, haben viele noch gar nicht mitbekommen, was passiert ist – etliche Wettkämpfe gehen erst einmal weiter.

Missglücktes Täuschungsmanöver

Um 11.15 Uhr wechselt die Stimmung im Krisenstab von Anspannung in Niedergeschlagenheit: Israels Premierministerin Golda Meir gibt offiziell bekannt, dass ihre Regierung „keine Geschäfte mit Terroristen macht“. Ihre gute Beziehung zu Kanzler Willy Brandt ist ihr wichtig und so bringt sie ihr „Vertrauen zu Westdeutschland zum Ausdruck“. Sie habe Verständnis, „wenn den Terroristen Freiheit versprochen wird, solange dies dazu beiträgt, die Geiseln zu befreien“.

Das große Versagen der deutschen Behörden 1972

Der 5.September 1972 markiert in der jüngeren Zeitgeschichte so etwas wie ein Start-Datum des internationalen Terrorismus. Ähnlich wie bei den Anschlägen des 11. September 2001 in Amerika geschah vor genau 50 Jahren in München etwas Grauenhaftes in einer Dimension, wie es zuvor niemand für möglich gehalten hatte: Inmitten der Olympischen Spiele, des symbolstarken Festes für Völkerverständigung, ermordeten palästinensische Terroristen israelische Sportler. Und das mitten in Deutschland. Die ganze Welt schaute zu. Entsprechend hieß es in den offiziellen Erklärungen von bayerischer Landesregierung und Bundesregierung, der Anschlag sei nicht zu verhindern gewesen: „Ich bin überzeugt“, sagte Bayerns Innenminister Bruno Merk, „dass wir das uns Mögliche getan haben“.

„Ich empfehle dringend, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen“
Deutscher Botschafter in Beirut, August 1972

Doch schon bald war klar, dass die Verantwortlichen schlicht nicht vorbereitet waren. Und es gab peinliche Pannen: Das „Oly“-Sicherheitspersonal, gekleidet in modische blaue Anzüge, war gänzlich unbewaffnet. Auch der Polizei mangelte es an trainierten Scharfschützen, geeigneten Gewehren, an Funkgeräten, an allem. Im Einsatz selbst wurde schließlich vergessen, die ermittelte Zahl der Attentäter, es waren acht, an die Polizisten vor Ort weiterzugeben.

Ins Reich der Phantasie gehört die Behauptung im offiziellen Schlussbericht, es habe „keinen spezifischen Hinweis auf eine Gefährdung israelischer Sportler“ gegeben. Am 11. August 1972, gut drei Wochen vor dem Anschlag, kabelte der deutsche Botschafter in Beirut in einem „Geheim“-Fernschreiben (Nr. 319), es gebe ernst zu nehmende Hinweise auf „Attentatspläne aus Anlass der Olympischen Spiele“. Er empfehle „dringend, alle im Rahmen des Möglichen liegenden Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen“. Es gab mehrere präzise Warnungen.

Aus den Dokumenten wird heute deutlich, dass die Planer der „heiteren“ Spiele von München aber in Abgrenzung zu den 1936 von den Nazis inszenierten Olympischen Spielen bewusst auf „Stacheldraht und Maschinenpistolen“ verzichteten, um „der Weltöffentlichkeit ein wahres Bild vom heutigen Deutschland zu vermitteln“. Am 7. September 1972 beriet das Bundeskabinett von Kanzler Willy Brandt, wie man Selbstkritik und gegenseitige Anschuldigungen möglichst begrenzen könne.

„Hoffnung, dass nunmehr die Konfliktparteien die völkerrechtlichen Grundsätze respektieren“.
Außenminister Walter Scheel (FDP), Oktober 1972

Und schließlich versagten die deutschen Behörden auch bei der Strafverfolgung: Drei der acht palästinensichen Attentäter hatten in der Nacht auf den 6. September den Schusswechsel mit deutschen Polizisten überlebt. Anschließend saßen sie in München-Stadelheim in Untersuchungshaft und sollten vor Gericht gestellt werden. Doch dazu kam es jedoch nie. „Als am 29. Oktober 1972 Palästinenser eine Lufthansa-Maschine auf dem Flug Damaskus-Beirut-Ankara-München-Frankfurt nach Zagreb entführten, war die Bundesregierung sehr schnell bereit, die Forderung der Geiselnehmer zu erfüllen und die drei überlebenden Terroristen freizulassen“, schreibt die Historikerin Eva Oberloskamp. Das diplomatische Agieren der Bundesregierung sei von der „Hoffnung“ geprägt gewesen, „man könne die Bundesrepublik in Zukunft aus dem Visier palästinensischer Terroristen heraushalten“. Die von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) geführte Bundesregierung habe durch das schnelle Ausfliegen der inhaftierten Palästinenser das Ziel verfolgt, „das Problem grundsätzlich zu entschärfen“. So habe Bundesaußenminister und Vizekanzler Walter Scheel (FDP) am 30. Oktober 1972 im Ständigen Ausschuss des Bundestages die „Hoffnung“ zum Ausdruck gebracht, dass „nunmehr die Konfliktparteien die völkerrechtlichen Grundsätze respektieren und ihre Aktivitäten nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland erstrecken“ werden. Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), der im Olympischen Dorf persönlich mit den Terroristen verhandelt hatte, berichtete dort, dass mit der raschen Freilassung der Attentäter künftig „ein Motiv für die arabischen Terroristen“ entfalle, weitere Attentate gegen die Bundesrepublik zu verüben.

Auch ein deutscher Komplize des palästinensischen Terrorkommandos kam glimpflich davon: Willi Voss (anderer Name: Willi Pohl) berichtete 2022 in einer ZDF-Reportage, wie er als „Mitglied des Schwarzen September“ die Münchener Attentäter vor allem logistisch unterstützt habe. Von dem eigentlichen Anschlag habe er vorab aber keine Kenntnis gehabt. Der 1944 geborene Deutsche war über die Jahrzehnte wechselweise im rechtsextremen Milieu aktiv, PLO-Mitglied, schrieb Krimis, arbeitete als Journalist oder Drehbuchautor für den ARD-Tatort. Auch für die CIA soll er gearbeitet haben. Laut Nachrichtenmagazin Spiegel wurde Voss wegen des Olympia-Attentats 1974 „trotz erdrückender Beweise“ lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt und kam vier Tage nach dem Richterspruch wieder auf freien Fuß. Eine Anklage gegen ihn, etwa wegen Beihilfe zum Mord an elf Menschen, hat es nie gegeben. (iri)

Doch in München läuft vieles schief. Mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten, die zur vermeintlichen Tarnung bunte Trainingsanzüge tragen, versuchen den Gebäudekomplex zu sichern. Kein Mensch kennt zu diesem Zeitpunkt die Anzahl der Attentäter. Doch der Rettungsversuch fliegt auf, bevor er begonnen hat: Die Fernsehsender der Welt übertragen das Geschehen live – dummerweise auch in die Connollystraße 31. Als Tröger die Geiseln im ersten Stock besucht, ist er „tief erschüttert“. „Völlig eingeschüchtert und ängstlich“ hätten je vier Geiseln in dem schmalen Zimmer „aneinandergefesselt auf zwei gegenüberliegenden Betten gesessen“. Die neunte Geisel saß auf einem Stuhl am Fußende, auf dem Boden lag die Leiche Romanos: „Tun Sie bitte alles, um uns zu helfen!“, hätten sie gefleht. Ein Flug zusammen mit den Terroristen in ein arabisches Land erscheint ihnen aussichtsreicher als eine Befreiungsaktion vor Ort.

Von der Tiefgarage aus bringt ein Bus Attentäter und Gefangene um 22.06 Uhr zu zwei Hubschraubern. Um 22.35 Uhr landen sie auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck. Eine Boeing 727 steht dort angeblich bereit für den Abflug Richtung Kairo. Ein Täuschungsmanöver, das die Terroristen rasch durchschauen. Fünf unzureichend trainierte Scharfschützen, teilweise ohne Funkverbindung, stehen acht zu allem entschlossenen Terroristen gegenüber. Schüsse peitschen durch die Nacht, Handgranaten detonieren. Am Ende sind alle neun israelischen Geiseln sowie fünf Attentäter tot. Auch ein deutscher Polizist stirbt. „The games must go on“, die Spiele müssen weitergehen – es sind Worte fürs Geschichtsbuch, die IOC-Präsident Avery Brundage bei der hektisch organisierten Trauerfeier am nächsten Morgen ins große Rund des Olympiastadions spricht. Viele finden das unpassend. Doch auch Israel hat sich dafür ausgesprochen. Auf gar keinen Fall dürfe es eine Kapitulation vor dem Terrorismus geben.

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