„An der Front gibt es keine Atheisten“

„Wenn die Granaten fallen, glaubt jeder an Gott.“ So sieht es der Pastor einer evangelikalen Gemeinde in der Westukraine. Mit seiner Freikirche bietet er Bedürftigen Hilfe an.
Von PRO
Gethsemane-Gemeinde Lwiw, Heimgruppe

Es ist bereits früher Abend, als ein breitbeiniger, geselliger Mann mit gepflegtem Kinnbart und kräftigen Händen die Tür zu einer unscheinbaren Wohnung im westukrainischen Lwiw (Lemberg) öffnet. Pastor Valeriy leitet eine freikirchliche Gemeinde in der Stadt. An diesem Abend empfängt Roman, eines der Gemeindeglieder, zu einer „Heimgruppe“ in seiner Wohnung. Sie liegt nicht im pittoresken, malerischen Zentrum der Stadt, sondern außerhalb, wo die Sowjetunion am eindrucksvollsten in Form von riesigen Wohnblöcken ihre Spuren hinterließ. Von außen betrachtet, wirken die Wohnungen oft schlecht gewartet und verputzt, doch innen ändert sich alles.

Roman ist zurückhaltend, höflich, in sich gekehrt – dabei feiert er heute den 45. Jahrestag seiner Taufe. Die Wohnung füllt sich schnell mit Gästen, und nachdem Pastor Valeriy, der die Gemeinde seit 24 Jahren leitet, ein Gebet gesprochen hat, beginnen die Gäste, an einem schlichten, aber herzhaften Mahl zu schlemmen.

Beten für Soldaten

Sie alle gehören zu einer der kleineren Kirchen, die in der Metropole nahe der polnischen Grenze aktiv sind. Den größten Einfluss hat hier die orthodoxe Kirche. Aber auch die katholische Kirche hat einen wichtigen Stand hier im Westen, da dieser lang unter dem Einfluss der katholischen Habsburgermonarchie stand, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Daneben gab es auch einmal protestantische Kirchen, die sich aber mit der evangelikalen Gethsemane-Gemeinde zusammengeschlossen haben.

Diese wurde durch amerikanische Missionare gegründet, welche nach dem Ende der Sowjetunion in der Ukraine tätig waren. Pastor Valeriy, ein herzlicher Mann mit tiefer Stimme, der von den Gemeindemitgliedern ohne Wenn und Aber respektiert wird, ließ sich davon ansprechen und studierte schon in den 90er Jahren in Kiew an einem eigens dafür gegründeten Institut Theologie. 2001 dann übernahm er die seitdem ständig wachsende Gemeinde in Lwiw.

Zwar ging das Gemeindeleben eine Weile seinen gewohnten Gang, doch auch hier änderte sich mit dem Ausbruch des Krieges alles. Schon Ende Februar begannen alle Kirchen in der Stadt, gemeinsam für die Ukraine zu beten, was nun allerdings nur noch an wichtigen Fest- und Feiertagen begangen wird. Die Gethsemane-Kirche betet seit Beginn der Vollinvasion drei Mal pro Tag für das Wohlergehen der Soldaten. Auch aus ihren Reihen kämpfen junge Männer an der Front.

„Wir kämpfen gegen das pure Böse“

Wie viele Gemeindemitglieder genau in der Armee sind, vermag Valeriy nicht zu sagen. Dafür kennen alle in der Gemeinde eine Liste, die für sie eine besondere Bedeutung hat. Achtzehn Namen stehen darauf. Sie bezeichnen diejenigen Mitglieder von Gethsemane, die im Krieg verwundet, getötet wurden oder sogar verschwunden sind. Auf den Krieg angesprochen erklärt einer von Romans Besuchern, der selbst bei der Stadtverwaltung von Lwiw arbeitet: „Wir haben keine Angst, sondern Kampfgeist. Wir kämpfen hier gegen das pure Böse.“

Mit dieser Meinung ist er nicht alleine. In der Gemeinde ist es schon lange klar, dass jeder seinen Teil dazu beitragen muss, dem eigenen Land zum Sieg zu verhelfen. Deswegen versorgt die Gethsemane-Gemeinde nach eigenen Angaben immer wieder Geflüchtete aus dem Osten des Landes, nimmt Mitglieder von Schwestergemeinden aus anderen Orten auf, und versucht, tatkräftig bei der Finanzierung von Medikamenten und Nahrungsmitteln zu helfen. Das gilt, wie Pastor Valeriy betont, allerdings für alle Kirchen in Lwiw und der Ukraine.

Granaten und Gebete

Die Gemeinde zeigt sich in ihrer Heimgruppe außerordentlich divers. Menschen aus dem ganzen Land sind dabei, auch Roman, der Gastgeber, stammt eigentlich aus der Oblast Donetsk, einem heute von Russland besetztem Gebiet im Osten des Landes. Dazu kommt auch Vitaly, ein Berater für Menschen mit Alkoholsucht, der dieser Krankheit selbst einmal verfallen war. Sie alle eint, dass sie in dieser Kirche zu Gott gefunden haben. Auf die Frage, warum gerade in dieser Kirche, gibt Maria, eine junge, mehrsprachige Ukrainerin, die achselzuckende Antwort: „Weil Gott uns hier zu sich gerufen hat.“

Foto: Pastor Valeriy
Wie viele andere christliche Gemeinden unterstützt auch die Gethsemane-Gemeinde in Lwiw Menschen, die aus anderen Teilen der Ukraine geflohen sind, mit Hilfsgütern

In den Augen von Pastor Valeriy ist selbstverständlich, dass Menschen im Krieg sich wieder Gott zuwenden. „An der Front gibt es keine Atheisten. Wenn die Granaten fallen, glaubt jeder an Gott“, meint er. „Danach vergessen sie ihr Gebet oft wieder, aber Gott“, dabei holt er tief Luft, „vergisst es nicht. Er weiß, dass dort jemand ist, der Hilfe braucht.“ Dementsprechend verzeichnete Gethsemane, ähnlich anderen Kirchen in der Ukraine, zumindest über die ersten Kriegsmonate einen Zulauf. Das sei aber mittlerweile wieder stark abgeflaut.

Kampfbereite Christen

Nicht abgeflaut ist allerdings der Krieg. Auch wenn dieser in Lwiw nur selten (dann dafür aber umso heftiger) zu spüren ist, bleibt ein unterschwelliges Gefühl der Gefahr bestehen, wie auch Maria, die junge Studentin, bestätigt. Dennoch gewöhnten sich besonders im Westen, wie sie erklärt, die Menschen zunehmend an den fortlaufenden Krieg. Dennoch ist die humanitäre Hilfe weiter nötig – die Kirche schafft es mitunter, über 2.000 Tonnen an Lebensmitteln zu lagern und zu verteilen, wie Valeriy angibt.

Wenn die lachende, ausgelassene Runde in Romans sauberer, schlichter Wohnung darauf angesprochen wird, was sie sich vom Westen wünscht, von Europa, von den Staaten in EU und NATO, wird der Raum still und die Mienen ernst. „Wo würde Europa heute stehen, wenn Hitler nicht auch mit Waffen besiegt worden wäre?“, fragt der Stadtrat. Das Land braucht humanitäre Güter, Geld und Waffen, und zwar dringend. Das meint sogar eine Runde aus tiefgläubigen, friedlichen Christen.

Von: Leonard Hennersdorf

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