Ist das Reich Gottes ein Gottesstaat, ähnlich wie ihn die Terrormiliz IS im Juni 2014 ausgerufen hat? Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls Teile der deutschen Medienlandschaft, seit US-Präsident Donald Trump die 48-jährige Amy Coney Barrett am Samstag als Nachfolgerin der kürzlich verstorbenen Supreme Court Richterin Ruth Bader Ginsburg nominiert hat. Im Internet ist zu lesen: „Juristische Kämpferin für ‚das Reich Gottes‘“ (Stern) oder „Wird sie Trumps Richterin für ‚das Reich Gottes‘?“ (Bild). Auf Twitter wurde zudem ein Beitrag tausendfach geteilt, in dem es heißt: „Al Qaida & ISIS haben soeben eine Erklärung herausgegeben, in der es heißt, ihr Endziel sei es, die Trennung von Kirche und Staat zu beenden und ein ‚Königreich Gottes‘ in den Vereinigten Staaten aufzubauen. Oh, mein Fehler, das war Amy Coney Barrett.“
Der Grund für diese Überschriften ist eine aus dem Zusammenhang gerissene Aussage Barretts. Im Jahr 2006 hielt die 48-Jährige eine Rede an der Notre Dame Universität im US-Bundesstaat Indiana. Dort sagte sie zu Studenten: „Denken Sie immer daran, dass Ihre juristische Laufbahn nur Mittel zum Zweck ist. Dieser Zweck ist der Aufbau des Reiches Gottes.“ Anschließend führte sie aus, dass es im Leben nicht darum gehe, Ruhm durch den Anwaltsjob zu erlangen, sondern „Gott zu kennen, zu lieben und ihm zu dienen“. Bei der Anhörung im Senat für ihren aktuellen Posten betonte Barrett 2017 allerdings, dass sie sich nur vom Gesetz und nicht von ihrem Glauben leiten lassen werde.
Barrett ist sicherlich keine unkomplizierte Person für das auf Lebenszeit vergebene Richteramt im Supreme Court. Die strenggläubige Katholikin und Mutter von fünf leiblichen und zwei Adoptivkindern ist laut der New York Times Mitglied der „People of Praise“, einer ökumenischen, theologisch charismatischen Gemeinschaft. Aber auch unabhängig von der Religion sind Richter im Supreme Court prinzipiell ideologisch gefärbt – da ist Barrett keine Ausnahme. Während Ginsburg über Jahrzehnte für Gleichstellung und Reproduktion kämpfte, ist Barrett gewissermaßen der fleischgewordene Gegenentwurf. Als Befürworterin des sogenannten Originalismus vertritt sie außerdem die Ansicht, dass die Verfassung entlang ihres historischen Wortlauts interpretiert werden müsse. Links-liberale Politiker fürchten, dass nun Urteile im Abtreibungsrecht, in der Gesundheitspolitik, im Bezug zu Einwanderung oder zu gleichgeschlechtlichen Ehen geändert werden. Konservative Christen werden vor allem begrüßen, dass die neue Richterin sich für den Lebensschutz starkmacht.
Gottes Reich ist vielfältig
Und manch einer scheint auch einen Gottesstaat zu fürchten. Dabei fehlt bei den Vorwürfen im Bezug zu ihren Aussagen von 2006 nicht nur der Kontext, sondern auch theologisches Verständnis. Das Reich Gottes ist vieles, aber sicherlich kein weltlicher Staat, in dem streng nach biblischen Vorschriften gelebt werden muss oder in dem es Richter bräuchte. Das Reich Gottes setzt sich aus drei Ebenen zusammen. Es ist individuell, gemeinschaftlich und politisch. Das Taizé-Lied „The kingdom of God“ beschreibt diese Eigenschaften sehr gut. Dort heißt es: „The kingdom of god is justice and peace / and joy in the holy spirit / come lord and open in us / the gates of your kingdom” (deutsch: „Das Königreich Gottes ist Gerechtigkeit und Frieden und Freude im Heiligen Geist. Komm Herr und öffne in uns die Tore deines Königreiches).
Gottes Reich ist individuell. Sich Gott anzuvertrauen und zu öffnen heißt, Freude und einen inneren, tiefen Herzensfrieden zu spüren. In Lukas 17, 21 steht weiterhin, dass das Reich Gottes mitten unter uns ist. Dort, wo gelingende christliche Gemeinschaft stattfindet, ist Gottes Reich ebenfalls zu finden.
Als vollständiges, umfassendes Reich — sozusagen als „verfasster Staat“ – hat das Reich Gottes eine rein zukünftige Dimension bei Jesus. Der Mensch kann Gottes Reich nicht selber herstellen. Es gibt aber immer wieder Momente, in denen Gottes Reich ein Stück weit, in Form von Gerechtigkeit und Frieden, in unsere Gegenwart hineinragt. Dort, wo Schwächere zu ihrem Recht kommen, wo Umweltorganisationen mit einem Anliegen durchkommen, wo Frieden entsteht oder wo eine Verfassungsrichterin Menschen Freiheiten zuspricht, kann das Reich Gottes eine politische Komponente haben. Inwiefern Barrett das schafft, bleibt abzuwarten.
Das Oberste Gericht hat in den USA oft das letzte Wort bei Grundsatzfragen wie Abtreibung, Einwanderung, Waffenrecht und Diskriminierung. Nach dem Tod von Ginsburg werden von den neun Sitzen nur noch drei von klar liberalen Richtern gehalten. Noch vor der Präsidentschaftswahl am 3. November soll der US-Senat der Nominierung Barretts zustimmen. Aufgrund der republikanischen Mehrheit im Senat gilt die Zustimmung als sicher. Am 12. Oktober sollen die Anhörungen beginnen. Trump sagte am Samstag, dass es eine „unkomplizierte und schnelle Bestätigung“ werden wird. Beobachter erwarten nichts anderes.
Von: Martin Schlorke