Filmkritik

Abbé Pierre: Französischer Priester, Popstar und Politiker

In Frankreich ist er eine populäre Figur, in Deutschland verhilft nun ein Film zu einer größeren Bekanntheit: Der Kapuziner Abbé Pierre gründete die weltweite Obdachlosenhilfe „Emmaus“. Der Film zeigt einen Popstar, der nie einer sein wollte.
Von Jörn Schumacher
Abbé Pierre Film

Der französische Priester Abbé Pierre gründete 1949 das Hilfswerk für Obdachlose „Emmaus“, das mittlerweile in 39 Ländern auf vier Kontinenten aktiv ist. Im Zweiten Weltkrieg verhalf er Hunderten jüdischen Familien zur Flucht in die Schweiz. Nach dem Krieg war er politisch tätig, und mit seiner Baskenmütze wirkte er bei seinen zahlreichen Medienauftritten stets wie ein Guerillakämpfer für die Armen. Regisseur Frédéric Tellier hat im Film „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ dieser „größten Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts“, wie es der Filmverleih behauptet, ein Denkmal gesetzt.

Als Henri Antoine Grouès wurde dieser unermüdliche Kämpfer gegen Armut 1912 in Lyon geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Seidenfabrikant, er engagierte sich für die Armen, besorgte ihnen Essen und Kleidung und schnitt in seiner Freizeit Obdachlosen die Haare. Grouès besuchte ein Jesuiten-Gymnasium und wurde mit 20 Jahren Kapuzinermönch, 1938 wurde er zum Priester geweiht. Seine Tuberkuloseerkrankung machte ihm ein Leben im Kloster allerdings unmöglich.

Als Abbé Pierre verhalf er zwischen 1942 und 1945 Juden und politisch Verfolgten zur Flucht in die Schweiz, indem er Papiere fälschte und Widerstand gegen die deutsche Besatzungsarmee leistete. Von 1946 bis 1951 war er Abgeordneter in der ersten Nationalversammlung.

Als im Winter 1953 Frankreich von einer bitteren Kältewelle heimgesucht wurde, bei der zahlreiche Obdachlose auf der Straße erfroren, appellierte Abbé Pierre über „Radio Luxemburg“ an die Bürger, Geld und Güter für die Armen zu sammeln. Er trat eine große landesweite Hilfswelle los, die sogar Prominente wie den Schauspieler Charlie Chaplin dazu brachten, Abbé Pierres Initiative öffentlich zu unterstützen. Sie fand sogar Eingang in die französischen Schulbücher.

Lange Zeit der beliebteste Franzose

Das Erbe seines Vaters setzte Abbé Pierre für die Hilfe für Arme ein, vor den Toren von Paris kaufte er ein Haus, das er obdachlosen Familien zur Verfügung stellte. Aus dem Namen dieses Hauses, „Emmaus“, wurde schließlich eine weltweit tätige Hilfsorganisation.

Abbé Pierre führte 30 Jahre die Umfragen nach dem beliebtesten Franzosen an, bis er 2005 auf eigenen Wunsch nicht mehr in dieser Liste aufgeführt wurde. Entsprechend groß war das Interesse an dem Biopic in Frankreich, über 800.000 Besucher sahen es sich bereits in den Kinos an. Ab Donnerstag, den 4. Juli, ist er in den deutschen Kinos zu sehen.

Der sehenswerte Film zeichnet mit eindrucksvollen Bildern die wichtigsten Stationen des so angesehenen Helden nach – und trotz einer Länge von über zwei Stunden merkt man ihm an, dass es nicht leicht war, dieses ereignisreiche Leben in einen Film zu packen. Wir sehen den jungen Abbé Pierre zunächst als Unteroffizier in der französischen Armee, der ein Bataillon im Kampf gegen die Italiener anführen muss. Hier findet er sich offenbar bereits langsam in die Rolle eines Anführers hinein.

Manchmal dürfte ein deutscher Zuschauer, der sich nicht allzu gut mit der Résistance – dem französischen Widerstand – und den Kollaborateuren des Vichy-Regimes auskennt, vielleicht etwas überfordert sein. Es ist beispielsweise nicht ganz klar, warum er als katholischer Priester von den Nazis zu gefangenen Juden geführt wird, damit er für sie die „letzte Salbung“ durchführen kann.

Groupies und Aufputschmittel – die Versuchungen des Star-Lebens

Abbé Pierres Auftritt in der Nationalversammlung scheint weniger von Erfolg gekrönt zu sein, den anderen Parlamentariern gilt er nach wie vor als unerfahrener Erbe eines reichen Vaters. In seinem Haus „Emmaus“ schließlich, dem Haus „für die, die alle Hoffnung verloren haben“, blüht Abbé Pierre auf. Die Verachtetsten der Gesellschaft, Ausgestoßene, Hoffnungslose und sogar Verbrecher nimmt er auf. Er gibt ihnen nicht nur zu Essen, sondern verhilft ihnen auch dazu, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Abbé Pierres Aufruf im Radio zu mehr Nächstenliebe in der Gesellschaft ist beeindruckend dargestellt. „Du, der du leidest, wer du auch bist, tritt ein, schlafe, iss, fasse Hoffnung. Hier wirst du geliebt“, ruft er den Menschen zu, die ohne seine Hilfe auf der Straße sterben würden.

Der Film zeigt, wie Abbé Pierre im Land gefeiert wird wie ein Rockstar, und auch die Versuchungen, die damit einhergehen, spricht er an. Allzu große Bewunderung durch das weibliche Geschlecht gehören dazu, wie auch das Aufputschen mittels Amphetamine, um dem enormen Arbeitspensum standhalten zu können.

Abbé Pierre starb am 22. Januar 2007 im Alter von 94 Jahren. An der Trauerfeier in der Pariser Kathedrale Notre-Dame nahmen Tausende Trauernde teil, darunter fast das gesamte Regierungskabinett sowie hochrangige Geistliche anderer Religionen.

„Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ ist ein bewegendes Biopic mit exzellenter schauspielerischer Leistung, das keinesfalls einen Heiligen inszenieren möchte, sondern einen Helden zeigt, der Schwächen hat und dessen Kraft nicht unbegrenzt ist. Schön, dass dieser Mann und sein Kampf gegen Armut durch den Film auch in Deutschland bekannter werden. Die wertvolle Botschaft, dass christliche Nächstenliebe für diejenigen ist, um die sich sonst niemand kümmern mag, ist überall und zu jeder Zeit wichtig. Einerlei, ob man dadurch zu einem Popstar wird oder nicht.

„Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“, Historienfilm, Frankreich 2023, 138 Minuten, Kinostart in Deutschland: 04. Juli 2024

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