Die Kirche ist in den Schlagzeilen: Priester haben ihre Schutzbefohlenen fürs Leben geschädigt sowie das Gute gepredigt und das Böse getan. Vor allem viele junge Menschen können mit dem Glauben und dessen Traditionen mittlerweile nichts mehr anfangen. „Was kommt nach dem Glauben?“ fragt Zeit-Autor Thomas Assheuer in der Titelgeschichte der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung und warnt vor einer Machtreligion des Diesseits.
Es könne sein, dass die Kirche sich ihr eigenes Grab schaufele und wieder zu dem schrumpfe, was sie einst gewesen sei: „eine Sekte unter anderen Sekten“. Nicht-Gläubige sähen die „Religion als nichts anderes als die letzte Bastion des Irrationalen“.
Religion protestiere auf ihre Weise mit dem Tröstungsversprechen „gegen Schmerz, Vergänglichkeit und die Endlichkeit des Lebens“. Dafür gebe es keinen weltlichen Ersatz. Für die Religionen dürfe das Böse nicht das letzte Wort behalten.
Ein Gott, der sich auf die Seite der Knechte stellt
Der biblische Monotheismus bilde eine weltgeschichtliche Zäsur: statt der Vielgötterei der alten Reiche gebe es seitdem eine „unbedingte Gerechtigkeit, weil vor Gott alle Menschen gleich waren“. Dieser habe sich auf die Seite der Knechte und nicht der Herren gestellt. Das Volk Israel habe einen Bund mit Gott geschlossen. In der Moderne würden Menschen eher nützliche Verträge schließen.
Ohne das monotheistische Erbe sieht Assheuer auch den „Glutkern des abendländischen Geistes“ absterben. Eine Gesellschaft, die ihre Moral allein aus säkularen Quellen beziehe, ist für ihn schwer denkbar: „Ohne den Stachel der Religion wäre die Moderne endlich frei und grenzenlos.“ Im Namen Gottes sei viel Blut vergossen worden. Deswegen sei die Ablehnung von Religionen und von ihrem Kampf um die Wahrheit verständlich – in der Hoffnung dass ohne Religionen Frieden herrsche.
Jedoch warnt der Autor vor einer neuen „Diesseitsreligion“, die nach dem „Tod Gottes“ in Kraft trete. „Sie besteht in der Heiligsprechung der Macht und der Anbetung des Faktischen.“ Sie sei keine Erfindung verrückt gewordener Minderheiten, sondern entstehe im Herzen der politischen Macht. Als Beispiele nennt Assheuer Russland, China, Brasilien und die Vereinigten Staaten. Politiker wie Donald Trump und andere evangelikale Scharfmacher predigten eine Feindschaft. Dafür stelle Trump sogar die biblische Botschaft auf den Kopf.
Den Kampf aller gegen alle vermeiden
Mit dieser gnadenlosen Machtreligion werde aller demokratischer Fortschritt zerstört und ein Kampf aller gegen alle eingeleitet. Dabei gehe es um Einflusszonen, Märkte und Rohstoffe. Assheuer glaubt nicht, dass die Religion weltweit verschwindet. Dafür sei das „Verlangen nach Antworten auf existenzielle Leiderfahrungen“ einfach zu groß. Für totalitäre Regime ist die religiöse Transzendenz und ihr Widerspruchspotenzial ohnehin eine anhaltende Bedrohung. Auch die Bergpredigt sei nach wie vor aktuell.
Er wünscht sich, dass die drei abrahamitischen Religionen den irdischen Machtfantasien abschwören: mit Fundamentalisten sei kein liberaler Staat zu machen. Vielmehr sollten die Religionsgemeinschaften ihrer eigenen Botschaft vertrauen, Kriegstreibern ins Gewissen reden und jenen eine Stimme geben, die keine haben. Und die Weltreligionen müssten die „Torheit“ begehen, ihre ursprüngliche Wahrheit neu zu denken, die Idee des Bundes und der gerechten Menschheit.
Immer wieder Hoffnung vermitteln
In derselben Ausgabe der Zeitung erklären die beiden evangelischen Domprediger in Berlin, Petra Zimmermann und Michael Kösling, im Interview, wie sie das kirchliche Leben in der Großstadt wahrnehmen. In Berlin seien nur nur noch 24 Prozent der Bevölkerung Kirchenmitglieder. Trotzdem hätten viele Menschen das Bewusstsein, dass die Kirche für alle da sein müsse und solle.
Gerade dann, wenn alle panisch seien, gelte es Trost und Hoffnung zu vermitteln: unabhängig von der Größe der Kirche. Menschen besuchten die Kirche, weil sie Gewissheiten anzubieten habe.
Der Berliner Dom sei immer wieder „Andockstelle für erwachsene Atheisten, die sich für den Glauben interessieren“. Der Dom sei für alle da: vom Touristen bis zur Kanzlerin, vom Bischof bis zum Obdachlosen. Es gehe darum, den Menschen beizustehen, gerade in einer Phase, in der sie durch Corona isoliert gewesen seien, findet Zimmermann. Sie habe den Aufschrei der Kirchen gegen diese Härten vermisst.
Worte finden, die in den Herzen Wurzeln schlagen
Kösling macht deutlich, dass die Kirche andere Antworten als Virologen und Politiker hätten. Deswegen sei ihnen in der Pandemie auch so wichtig gewesen, dass ein Pfarrer immer mindestens zwei Stunden am Tag in der Kirche ansprechbar gewesen sei: „Menschen, die von der Krise aus dem Gleis geworfen wurden, können das bei uns zugeben.“
Es bringe nichts, die Menschen zu verdammen, weil sie Gebete und Lieder nicht könnten. Stattdessen gehe es darum, Worte zu finden, die in den Herzen Wurzeln schlagen. Von der Kirche wünsche er sich aber auch, dass sie als „Institution, die auf Abschied und Neuanfang spezialisiert ist“, in diesen Bereichen mutigere Wege geht.
3 Antworten
Habe ich gerade gelesen „Trump und andere (!) e v a n g e l i k a l e Scharfmacher“? Ich denke, mittlerweile projeziert man ja allen Abschaum in die Ruprik evangelikal. Aber dabei sollte man bitte mal auf die schauen, die vom Wesen und Ursprung her sind, was einst evangelikal ausmacht: Ein bibelorientiertes Christsein. Und ja, dass geht mit Konflikten einher. Aber per se nicht mit dem Wesen eines Trumps und erst recht nicht mit einer Diesseitsreligion.
Zur Erinnerung: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Großbritannien Christen, die sich gegen die Sklaverei aussprachen als „evangelikal“ bezeichnet.
„dass die drei abrahamitischen Religionen den irdischen Machtfantasien abschwören:“
Das ist mit Verlaub Nonsens, der Islam ist die einzige abrahamitische Religion mit irdischen Machtansprüchen. Und wehe denen, die dabei nicht mitmachen wollen ! Die Juden bleiben gern unter sich, verstehen sich als exklusives Völkchen und tun niemandem weh. Die Palästinenser mögen das etwas anders sehen. Bis auf ein paar extreme Charismatiker und Einsprengsel der kath. Kirche haben die Christen weltweit keine Machtansprüche, der klassische Evangelikale möchte wohl ein paar Leute fürs Evangelium gewinnen, sein Fokus aber liegt auf der Ewigkeit. Da hat sich Luthers „zwei Reiche- Lehre“ durchgesetzt.
Sich der Illusion hinzugeben, dass die Welt ohne Religion friedlicher wäre ist Geschichtsrevisionismus, Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot sind die Schlächter des vergangenen Jahrhunderts und die waren definitiv nicht religiös !
Ohne die Verbrechen die im Namen der Religion verübt wurden klein zu reden, aber die größere Gefahr geht vom Atheismus aus !
Die Volksfrömmigkeit mag sich in der Postmodernen auflösen, damit kann man leben, die Botschaft des Evangeliums und die Nachfolger Jesu bleiben !