Wenn das Weizenkorn, das in die Erde fällt, nicht stirbt …

Der russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewskij wurde vor 200 Jahren geboren. Der Glaube an Gott und die Auferstehung ist ein wesentliches Motiv in seinen Werken.
Von PRO

Meine erste literarische Begegnung mit Dostojewskij hatte ich zu Beginn meines Studiums: Ich war begeistert von den Werken Albert Camus’ und las in seiner Einführung zum Theaterstück „Die Besessenen“ – einer Dramatisierung von Dostojewskijs „Dämonen“: „Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten. Heute weiß man, dass das, was er prophezeite, auf sich warten ließ, und wir erkennen, dass Dostojewskij der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen … Für mich ist Dostojewskij der Schriftsteller, der lange vor Nietzsche den zeitgenössischen Nihilismus erkannte, definierte und seine ungeheuerlichen oder wahnwitzigen Folgen voraussah, und der versuchte, die Botschaft des Heils zu bestimmen.“

Die Scheinhinrichtung

Fjodor Michailowitsch Dostojewskij wurde am 30. Oktober 1821 in Moskau geboren. Sein Vater war Arzt in einem Armenkrankenhaus. Auf Wunsch seines Vaters wurde er in St. Petersburg zum Ingenieur ausgebildet. Für eine kurze Zeit hat er diesen Beruf auch ausgeübt. Sein Interesse aber galt den Menschen. Im Alter von 17 Jahren schrieb er seinem Bruder Michael: „Der Mensch ist ein Geheimnis … Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.“

1846 veröffentlichte er seinen ersten Roman: „Arme Leute“. Dieser Titel gilt als programmatisch für sein weiteres Werk. In seinen Romanen geht es vor allem um die „Erniedrigten und Beleidigten“, wie ein anderer Romantitel lautet. 1848 schloss er sich einer staats- und kirchenkritischen Gruppe aus Beamten, Offizieren und Studenten an. Der Zar hatte einen Spion in diesen Kreis eingeschleust. Im April 1849 werden alle verhaftet. Am 22. Dezember wird ihm und anderen Verhafteten ohne Vorwarnung das Todesurteil durch Erschießen verkündet, das sofort vollstreckt werden soll. Als die Soldaten die Gewehre schon angelegt haben, wird die Hinrichtung auf Befehl des Zaren abgebrochen. Die ganze Szene wurde nur inszeniert, um Härte zu demonstrieren.

Für Dostojewskij folgten vier Jahre Straflager zusammen mit Schwerverbrechern in der Nähe von Omsk in Sibirien. Anschließend musste er auf unbestimmte Zeit als einfacher Soldat in Semipalatinsk leben. 1859 konnte er in den westlichen Teil Russlands zurückkehren. Am 28. Januar 1881 starb Dostojewskij in St. Petersburg im Alter von 59 Jahren.

Das Neue Testament in den Romanen Dostojewskijs

Auf dem Wege ins Straflager wurde Dostojewskij ein Neues Testament geschenkt. Es war das einzige Buch, das dort erlaubt war und von dem er sich auch später nicht mehr trennte. Anstreichungen lassen darauf schließen, dass ihn drei Themen besonders beschäftigten

  1. Wie kommt man vom Zweifel zum Glauben?
  2. Auferstehung
  3. die Person Jesus Christus

In seinen großen Romanen ab 1866 („Schuld und Sühne“, „Der Idiot“, „Die Dämonen“ und „Die Brüder Karamasow“) spielen Texte und Themen aus dem Neuen Testament eine zentrale Rolle.

Dem Roman „Die Dämonen“ stellt er neben einem Zitat von Puschkin als Motto die Erzählung von den Dämonen, die in eine Schweineherde fahren, voran (Lukas 8,32–36). Bei den „Brüdern Karamasow“ stammt das Motto aus Johannes 12,24: „Wenn das Weizenkorn, das in die Erde fällt, nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viel Frucht.“ Auf beide Bibelstellen wird in den Romanen Bezug genommen. Der Vers aus dem Johannesevangelium steht auch auf dem Grabstein Dostojewskijs. In seinen Romanen zitiert Dostojewskij auch längere biblische Abschnitte: Die Auferweckung des Lazarus  in „Schuld und Sühne“, die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit in Kana und die Versuchung Jesu – beides in den „Brüdern Karamasow“.

Sehen wir uns die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus in seinem Roman etwas genauer an. Sie taucht mehrmals an entscheidenden Stellen auf. Zunächst im ersten Gespräch Raskolnikows mit dem Untersuchungsrichter Porfirij. Raskolnikow spricht vom Neuen Jerusalem als Ziel der Geschichte der Menschheit. Porfirij fragt ihn ganz überrascht: „Sie glauben also immerhin an das Neue Jerusalem?“ – „Ich glaube“, antwortet Raskolnikow mit Bestimmtheit.

„ … glauben Sie auch an Gott?“ – „Ich glaube“, wiederholt Raskolnikow.

„… glauben Sie auch an die Auferweckung des Lazarus?“ – „Ich glaube.“

„Glauben Sie buchstäblich daran?“ – „Buchstäblich.“

Die drei Fragen des Untersuchungsrichters sind eine Steigerung hin zum Konkreten. An das Neue Jerusalem, also an das Paradies auf Erden, glaubten im 19. und selbst im 20. Jahrhundert viele Menschen. Der unbestimmte Glaube an eine höhere Macht wird bis heute vertreten. Aber die Auferweckung des Lazarus zu glauben, bedeutet, dass man ein konkretes, historisches Ereignis glaubt, das ein Zeichen der Macht von Jesus ist.

Unmittelbar nach diesem Gespräch sieht Raskolnikow bei Sonja eine Ausgabe des Neuen Testaments. Diese Ausgabe ist „alt, fleißig genutzt, in Leder gebunden”, genau wie Dostojewskijs eigene Ausgabe. Raskolnikow fordert sie auf, die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus vorzulesen. Nach der Lesung schweigt er betroffen. Diese Geschichte spiegelt seine eigene Situation wider. Tot und bereits der Verwesung nahe, das ist er. Leben ist das, was er möchte, Auferstehung ist das, was er nötig hat. Deshalb wird er von der Aussage Jesu „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Johannes 11,25) so unmittelbar angesprochen. Sonja hat ihr Zimmer beim Schneidermeister Kapernaumow. Dieser Name ist ein Hinweis auf den Ort Kapernaum, in dem Jesus einen Gelähmten heilte. Nach seiner Tat, einem Doppelmord, wird Raskolnikow als ein „Gelähmter“ beschrieben. In Sonjas Zimmer im Haus des Kapernaumow beginnt nun sein Heilungsprozess.

An Raskolnikow zeigt Dostojewskij, dass die Verwandlung des alten zum neuen Menschen nötig und möglich ist. Wie es im Epheserbrief, Kapitel 4,22–24, heißt: „Legt von euch ab den alten Menschen … und zieht den neuen Menschen an.“ Bei Raskolnikow geschieht diese Wandlung allmählich, bei Aljoscha Karamasow geschieht sie durch ein plötzliches Bekehrungserlebnis im Zusammenhang mit dem Lesen der Geschichte der Hochzeit zu Kana. Entscheidend für die Heilung eines Menschen ist die Umkehr zu Gott.

Wer entlastet unser Gewissen?

Im „Großinquisitor“, der Versuchungsgeschichte von Jesus aus der Sicht des Versuchers, werden Mechanismen beschrieben, die man anwenden muss, wenn man Menschen beherrschen will. Wer die Menschen beherrschen, ihnen also ihre Freiheit abnehmen will, muss ihr Gewissen beherrschen. Ein Gewissen beherrscht man, wenn man es entlastet und beruhigt. Totalitäre Systeme bedienen sich dieser Mechanismen, auch Diktatoren des 20. Jahrhunderts: „Der Führer hat immer recht“, hieß es im Nazireich. „Die Partei hat immer recht“, im Sowjetimperium. Der Einzelne muss sein Verhalten nicht mehr hinterfragen. Das Unrechtsbewusstsein schwindet.

Die Vorstellung, dass der Mensch jemanden sucht, an den er seine Freiheit abgeben kann, beschäftigte Dostojewskij schon sehr früh. Sie taucht bereits in seiner Erzählung „Die Wirtin“ (1847) auf. Wenn wir davon ausgehen, dass Dostojewskijs Gedanke der Entlastung des Gewissens zeitlos ist, stellt sich die Frage: Wer oder was entlastet heute unser Gewissen? 

Das Vermächtnis

Kurz vor seinem Tod las Dostojewskij seinen beiden Kindern die Geschichte von den beiden verlorenen Söhnen (Lukas 15) vor. „… vergesst nie, was ihr eben gehört habt. Habt unbedingtes Vertrauen auf Gott und zweifelt nie an seiner Gnade … Selbst wenn ihr ein Verbrechen begehen solltet, so zweifelt niemals an Gott. Bittet ihn um Vergebung, dann wird er sich freuen, so wie sich der Vater über die Heimkehr des verlorenen Sohnes freute.“

Hier klingen noch einmal zentrale Themen seiner großen Romane an: Ohne Reue, Umkehr und Vergebung kann der Mensch nicht von seiner inneren Zerrissenheit geheilt werden. Deshalb lässt Dostojewskij in den „Brüdern Karamasow“ den Staretz Sossima sagen: „Wenn nur die Reue in dir nicht erlahmt, so wird Gott alles verzeihen.“ Und zur Vergebung gehört nicht nur, dass man sie von Gott annimmt, sondern auch, dass man den anderen vergibt. „Lass dich von den Menschen nicht erbittern und ärgere dich nicht über Kränkungen … vergib im Herzen alles, söhne dich aus.“

Foto: idea/Patrick Sinkel

Dr. Jürgen Spieß, Jahrgang 1949, hat das Institut für Glaube und Wissenschaft gegründet und bis 2015 geleitet. Er ist Mitglied der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft.

Von: Jürgen Spieß

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2021 des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie die PRO hier.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

4 Antworten

  1. Danke, Jürgen Spieß, für das Hinführen zur „Russischen Seele“ über Dostojewskij. Der „Großinquisitor“ hat mich als Teenager schon fasziniert: „Gib uns deine Freiheit, wir nehmen dir Denken und Sorgen ab. Das ist der deal, das Angebot, „das Sie nicht ablehnen können“.“ Aber: zur Freiheit hat uns Christus befreit. Diese letzte Wahrheit in Romanform den Menschen gebracht zu haben, dafür steht dieser große Russe. Und gestern war Reformationstag. Dieser Beitrag hebt den PRO-Level um einiges.

    0
    0
  2. Dostojewski hat in seinen Werken christliche Motive, ohne Zweifel. Aber er verkündet nicht das biblische Christentum, sondern das, was die Ostkirche daraus gemacht hat – und das ist gerade in den zentralen Punkten, vor allem der Rechtfertigung, weit von der biblischen Lehre entfernt. Das wird immer wieder ein Dostojewskis Werken deutlich, etwa in „Raskolnikow“ (oder „Schuld und Sühne“), in dem sehr hervortritt, dass der Mensch büßen müsse, dass der Mensch selbst oder jemand stellvertretend für ihn die Schuld sühnen müsse. Die Ostkirche kennt die freie Gnade nicht, so wenig wie Rom. Das sollte man bei dem Gespräch über Dostojewski nicht vergessen.

    0
    0
  3. Leider begegnen uns in Dostojewskis Romanen neben interessanten und wertvollen Schilderungen auch immer wieder Stereotypen: Der charismatische, unzuverlässige Franzose, der dumpfe, obrigkeitshörige Deutsche, der emotonslose, steife Engländer, der geldgierige Jude.
    Auch diese Seite Dostojewskis kann man nicht übersehen.

    0
    0
  4. „Auf dem Wege ins Straflager wurde Dostojewskij ein Neues Testament geschenkt.“
    Das zeigt, wie folgenreich die Weitergabe der biblischen Botschaft sein kann. Jesus Christus will dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1.Timotheus 2,4). Wie engagieren Sie sich für die Evangelisation?

    0
    0

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen