Zerrissener Journalismus und Gesellschaft im Krisenmodus

Marktplatz der Ideen oder Haltung zeigen? Das Verständnis von Journalismus verändert sich, finden die Medienforscher Stephan Ruß-Mohl und Christian Pieter Hoffmann. Und aus soziologischer Sicht ist die moderne Gesellschaft in der Dauerkrise. Erkenntnisse von der Buchmesse.
Von Jonathan Steinert
Riss im Asphalt, mit einem Pflaster überklebt

Der Journalismus steckt in einer Zerreißprobe: Soll er als „Marktplatz der Ideen“ möglichst viele verschiedene Meinungen abdecken? Oder sollte er sich aufgrund einer bestimmten Haltung als eine Partei im öffentlichen Diskurs verstehen? Die Medienforscher Christian Pieter Hoffmann von der Universität Leipzig und Stephan Ruß-Mohl, bis zu seiner Emeritierung Professor an der Universität Lugano, haben vor diesem Hintergrund das Buch „Zerreißproben: Liberalismus und Liberalität in den Leitmedien“ herausgegeben.

Die Corona-Krise sei eines der „Zerreißfelder“ für den Journalismus gewesen. Wie Hoffmann in einem Autorengespräch im Rahmen der Frankfurter Buchmesse sagte, hätten viele Journalisten in einem „aufrichtigen Gewissenskonflikt“ gestanden: zwischen der wahrgenommenen Aufgabe, Schaden zu minimieren, indem man das Regierungshandeln unterstützt, und dem journalistischen Wert, kritisch gegenüber der Regierung zu sein. Ruß-Mohl äußerte, dass gerade in der Anfangsphase der Pandemie die immense Berichterstattung über das Virus die Politik unter Handlungsdruck gesetzt habe.

Das Berufsfeld des Journalismus stehe links der gesellschaftlichen Mitte, erklärte Hoffmann. Das sei an sich nicht schlimm. In vielen Berufszweigen gebe es bei der politischen Orientierung Abweichungen vom Durchschnitt. Politische Haltungen müssten sich auch nicht eins zu eins in der Berichterstattung wiederfinden. Die Frage sei aber: „Gibt es Homogenisierung? Das wäre zu problematisieren.“

Ruß-Mohl betonte: „Haltungsjournalismus geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit.“ Und er ergänzte: „Wer aktivistisch im Journalismus agiert, muss sich fragen, ob er den richtigen Beruf gewählt hat.“ Aktivismus sei PR und damit eine andere Form der öffentlichen Komunikation. Journalisten müssten so unvoreingenommen wie möglich sein.

Warnung vor „totalitären Gegebenheiten“

„Journalismus befindet sich in einem Wandlungsprozess“, erklärte Hoffmann. Vor allem die junge Generation treibe ein haltungsorientiertes Verständnis von Journalismus voran. Es sei jedoch „sehr illiberal“, wenn aus Gründen der Identitätspolitik und der Nichtdskriminierung – einer als „Wokeness“ bezeichneten Haltung – vehement auf Tabus hingewirkt werde und darauf, bestimmte Wörter nicht mehr zu verwenden. „Für den Journalismus ist das eine enorme Herausforderung, wenn Anhänger dieser Ideologien in die Redaktionen strömen, wie das gerade bei jüngerne Journalisten in den USA sehr deutlich zu sehen ist. Hier haben wir es mit Journalisten zu tun, die nicht mehr ihre Aufgabe darin sehen, die Breite der Debatte stattfinden zu lassen.“

Der öffentliche Diskurs sei bereits polarisiert, auch gebe es Bestrebungen, Themen und Positionen zu tabuisieren. Daher warnte Hoffmann: „Wenn in Journalismus und Wissenschaft Ideen Oberhand gewinnen, die sich ganz explizit gegen die Meinungsfreiheit und die Offenheit des Diskurses stellen, erleben wir eine fundamentale Krise des Liberalismus.“

Auch Ruß-Mohl betonte, eine Diskursverengung durch „Wokeness“ sei sehr gefährlich und könne zu Ende gedacht auch in „totalitäre Gegebenheiten münden“. Wenn sich Journalisten „im Alleinbesitz der Wahrheit empfinden, statt zu sagen: Ich suche die Wahheit und bin offen für neue Argumente und Einsichten – dann driften wir in einen gesellschaftlichen Diskurs, der immer einseitiger wird und möglicherweise kritische Argumente nicht mehr verarbeitet“.

„Nur der Schöpfer kennt das Ganze“

Die Gesellschaft der Moderne befindet sich im permanenten Krisenmodus, erklärte der Soziologe Armin Nassehi im Gespräch mit Journalist Thorsten Jantschek bei der Frankfurter Buchmesse. Der Latenzbereich, also dort wo Krisen Unruhe stiften, sei besonders durch die Corona-Krise deutlich sichtbar geworden. Der Ausnahmezustand und die Unsicherheit bei weitreichenden Entscheidungen habe die Gesellschaft gelähmt. Strukturen hätten sich schnell verändern müssen, sodass Gesellschaftsteile voneinander „unabhängiger und abhängiger zugleich“ geworden seien.

Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass zwar organisiertes Verhalten, etwa der Lockdown und Abstandsregeln im öffentlichen Raum oder bei der Arbeit, eingehalten werden könnten. Aber die Menschen hätten ihr Verhalten habitualisiert, lebten also übliche Gepflogenheiten im inoffiziellen Rahmen gewissermaßen automatisch aus und verletzten dabei auch Regeln.

Neben der Coronapandemie ist für den Soziologen Nassehi auch der drohende Klimawandel eine „Referenzkrise der Moderne“. Klimaschutz müsse „eine kollektive Sache“ sein, denn nur dann könne der Klimawandel aufgehalten werden. Doch im kollektiven Handeln zeige sich ein systemtheoretisches Problem: Regulierungen könnten nicht vollends in der gesamten Gesellschaft einheitlich abgestimmt werden, weil die verschiedenen Gesellschaftsbereiche wie Medizin, Politik, Wirtschaft oder Bildung nach eigenen bestimmten Logiken funktionierten. Der Gewinn liege jedoch „im Handeln der einzelnen Systeme“.

Letztendlich bilanzierte Nassehi im Gespräch auf dem „Blauen Sofa“ auf der Buchmesse über die Gesellschaft: „Das Ganze zeigt sich nicht – nur der Schöpfer kennt das Ganze.“ Das seien nicht mal sie Soziologen.

Von: Jonathan Steinert, Johannes Schwarz

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