In seinem Buch „Risikofallen“ belegt der Kommunikationswissenschaftler Hans-Mathias Kepplinger, dass ein Leben ohne Risiko nicht möglich ist. Jeder Mensch müsse für sich entscheiden, welche Risiken er eingehen möchte und welche er vermeiden kann und somit sein Leben kalkuliert zu gestalten.
Im Gespräch mit dem Verleger Herbert von Halem anlässlich der Buchmesse in Frankfurt nennt Kepplinger Beispiele für Risikofallen. Die Unterbrechung der Impfungen mit dem Impfstoff Astrazeneca sei rein statistisch gesehen Unsinn gewesen. Wenn die Impfungen fortgesetzt worden und hinterher ein Fall von Sinusvenenthrombose aufgetreten wäre, wären der Bundesgesundheitsminister und der RKI-Chef aber „den Bach runtergegangen“: „Das zeigt: wenn Menschen in der Öffentlichkeit Risiken kalkulieren, handeln sie nicht nur sachgemäß“, erläutert Kepplinger.
Der Wissenschaftler betrachtet auch die Rolle der Medien in der Pandemie: „Sie haben diese besser erfüllt als gedacht, aber natürlich zeigten sich auch die Schwächen der Berichterstattung.“ Wenn Medien über neue wissenschaftliche Erkenntnisse berichteten, sei der Laie davon häufig irritiert: „Das Ergebnis der guten Absicht ist die Desinformation. Es ist ein Irrtum zu meinen, je mehr Medien man nutzt, desto besser ist man informiert.“
Männer risikobereiter als Frauen
Unterschiede gebe es bei den Geschlechtern. Frauen schätzen Risiken signifikant höher ein als Männer. Sie beachteten mehr Regeln, um Risiken zu vermeiden oder informierten sich intensiver: „Extreme Informationen im Internet beeinflussen die Risikoeinschätzung.“ Auch seien Menschen risikobereiter, wenn sie einen Schaden vermeiden, als wenn sie ihren Gewinn maximieren könnten.
Das Risiko sich nicht impfen zu lassen, sei höher als das Risiko sich impfen zu lassen, findet Kepplinger. Wer sich nicht impfen lasse, stelle eine Gefahr für andere dar. Man dürfe nicht nur an sich denken. Doch diese Menschen als „Covidioten“ zu bezeichnen, sei destruktiv. Eine Anti-Haltung oder eine Verurteilung der Menschen helfe nicht weiter.
Die Gesellschaft müsse abweichenden Meinungen wieder mehr Raum geben: „Der gesellschaftliche Druck auf diese ist beängstigend stark.“ Als eine Quelle dafür macht er die Universitäten aus. Heute gehe es bei wissenschaftlichen Arbeiten meistens darum, was thematisch ankomme und wer zitiert werden müsse, um am Markt zu bestehen: „Das hat gewaltige Konsequenzen für die Karriereplanung.“
Doktoranden würden häufig als „Drittmittel-Einwerber ausgebeutet“. Mit schrägen Ideen gelinge es kaum, diese Mittel zu erhalten: „Junge Menschen müssen Lücken finden, in denen sie sich entfalten können. Wir müssen abweichende Meinungen ernst nehmen, haben aber aus freien Stücken eine unfreie Kommunikationsstruktur erstellt.“
Beim Risiko nicht von Illusionen verleiten lassen
Menschen würden häufig viele Risiken eingehen, weil sie glaubten, Dinge besser beeinflussen zu können als andere: „Wir sollten uns einerseits nicht verrückt machen lassen, andererseits aber nicht überschätzen und denken, alles unter Kontrolle zu haben.“ Je ähnlicher sich Menschen seien, desto ähnlicher nehmen sie das Risiko für andere wahr: „Dann entsteht die Illusion, dass ich mich auf sicherem Terrain bewege und unverwundbar bin.“
Auch der Lebensstandard sei ein Indikator für Risikobereitschaft: Je geringer dieser sei, desto eher seien Menschen risikobereit: „Je höher der Lebensstandard ist, desto ängstlicher und intoleranter werden wir gegenüber jeglicher Art von Risiken.“ Kepplinger lehrte bis zu seiner Emeritierung 2011 als Kommunikationswissenschaftler an der Universität Mainz.