Meinung

Die andere Birgit Kelle

Birgit Kelle schreibt über ihre Pilgerreise auf dem Jakobsweg – damit ist sie nicht die erste. Ihr Buch lässt aber eine bisher unbekannte, leisere Birgit Kelle zum Vorschein kommen.
Von Swanhild Brenneke

Die Publizistin Birgit Kelle hat das Pilgern entdeckt – und darüber ein Buch geschrieben: „Camino – mit dem Herzen gehen“. 300 Kilometer lief sie auf dem Jakobsweg vom spanischen Léon bis nach Santiago de Compostela. Sie ist nicht die erste, die darüber ein Buch veröffentlicht. Eines der bekanntesten Beispiele ist Hape Kerkeling mit seinem Werk „Ich bin dann mal weg“. Seither häufen sich im Buchhandel Veröffentlichungen rund ums Pilgern und den Jakobsweg. Der erste Gedanke zu Kelles neuem Buch: Mittlerweile ist über das Pilgern alles gesagt.

Doch das besondere an ihrem Werk: Es lässt eine ganz neue Seite der Journalistin erkennen, die in der Vergangenheit mit ihren Aussagen gerne auch mal provozierte und sich nicht davor scheute, ihren Gedanken öffentlich freien Lauf zu lassen – was ihr schon die eine oder andere Kritik einbrachte. In ihrem Buch „Camino“ lernt man eine nachdenklichere Birgit Kelle kennen. Auslöser für ihre Pilgerreise war ein privater Schicksalsschlag: Ihr Mann Klaus erlitt 2016 einen schweren Herzinfarkt und lag zunächst im Koma. Er erholte sich wieder, doch Kelle schreibt über die schwere Zeit, in der sie auf einmal allein da stand mit vier Kindern:

„Die eigene Verantwortung für mein Leben, die ganze Last brach über mir zusammen, und sie wog schwer.“

Birgit Kelle, „Camino“

Es dauerte dann noch vier Jahre, bis sie tatsächlich losging. Doch den Wunsch, etwas ganz für sich allein zu tun und mit sich selbst allein zu sein, habe sie schon länger gehabt, schreibt sie. „Seit vielen Jahren begleitet mich der Gedanke, den Jakobsweg zu gehen. Seit genau so vielen Jahren fanden sich immer genug Gründe, es nicht zu tun. Die Kinder, die Arbeit, keine Zeit, jetzt schon mal gar nicht. Dann die spontane Erkenntnis, dass ich mit dieser Methode ziemlich alt werde, ohne jemals dort gewesen zu sein. Dass mich dieser Weg ruft, schon sehr lange. Dass er geduldig wartet und ich aufbrechen muss, noch dieses Jahr. Ich muss mich auf den Weg machen. Meinen Weg. Unbedingt.“

2020 mitten im Winter – im Advent – läuft sie schließlich los. Es habe sich einfach kein anderes Zeitfenster gefunden, schreibt sie über den Grund, den Weg in der kalten Jahreszeit zu wandern.

Der weitere Verlauf des Buches liest sich streckenweise wie eine Reportage. Sie beschreibt die Menschen, denen sie auf ihrer Tour begegnet: Die 70-jährige Marie, die schon seit mehreren Jahren ununterbrochen unterwegs ist. Der Schweizer Johannes, der den Camino schon zum zweiten Mal läuft und auf seiner ersten Tour eine Nachricht von seiner Frau bekam, dass er gar nicht erst wieder zurückkommen müsse, und der nun vor der Rückkehr buchstäblich davon läuft. Gandalf, der Graue, der eigentlich auf Gran Canaria lebt, zwei Italienerinnen aus Rimini, die mit ihr gemeinsam starteten und denen sie im Verlauf der Route immer wieder begegnet.

An anderen Stellen liest es sich wie ein Tagebuch, in dem sie persönliche Gedanken und Gefühle teilt: Wut auf sich selbst, wenn sie droht, vor Anstrengung gepaart mit schlechtem Wetter, Kälte und Wind zu kapitulieren, Freude und Erfolg, wenn steile Aufstiege oder die 25 Tageskilometer geschafft sind und eine warme Mahlzeit in der Herberge wartet. Auch Gott erkennt sie immer wieder auf ihrer Tour, sei es durch Gebete, die ihr während des Wanderns durch den Kopf gehen, durch die Schönheit der Natur oder durch die Zuflucht in einer Kathedrale vor schlechtem Wetter. „You look so happy“ – „Du siehst so glücklich aus“, sagt ihr ein koreanischer Weggefährte einmal frühmorgens bei einem Kaffee. Es sei die Reduzierung auf die Grundbedürfnisse, die Stille beim Laufen, das „Gar-nichts-Müssen“, erklärt Kelle daraufhin.

„‚You look so happy‘, trotz Aufstehen um sieben, trotz steilem Aufstieg im Dunkeln, trotz zehn Kilometern Anstrengung. Die Sonne. Der Kaffee. Das Gar-nichts-Müssen.“

Birgit Kelle, „Camino“

Zwischen den einzelnen Kapiteln finden sich immer wieder Fotos von Kelles Weggefährten, Landschaftsaufnahmen und Bilder der oft spartanischen Unterkünfte. Gepaart mit ihren anschaulichen Beschreibungen fühlt sich der Leser direkt mitgenommen auf die Reise.

Die Erfahrungen, die Kelle auf ihrer Pilgerreise macht, sind nicht neu und finden sich auch in anderen Büchern. Zum Beispiel, körperlich an die eigenen Grenzen zu kommen, das Alleinsein und die Besinnung auf das Wesentliche. Neu sind die leiseren und bedachteren Töne der Autorin im Gegensatz zu vergangenen Publikationen. Daher kann auch, wer bisher kein Birgit-Kelle-Fan war, „Camino“ mit Gewinn lesen.

Birgit Kelle: „Camino – mit dem Herzen gehen“, 112 Seiten, fontis, 19,99 Euro, ISBN 9783038482307

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