Natürlich gelten Anleihen aus der Kirche immer wieder als Grundlage für Horrorfilme. Bibelsprüche dienen als Titelgeber, Priester und Nonnen müssen in diversen Streifen gegen das Böse kämpfen, alte Kirche und das Mittelalter sind sichere Gruselfaktoren. Auch in der Netflixserie „Midnight Mass“, die seit dem 24. September 2021 auch auf Deutsch zu sehen ist, dient das Christliche, so könnte man argumentieren, als das Gruselige. Doch so einfach ist es nicht.
Auf der (erfundenen) Insel Crockett Island geht eigentlich alles den Bach herunter. Die Menschen ziehen weg, die Wirtschaft lahmt, und die einstmals für alle Bewohner immens wichtige Kirchengemeinde dümpelt vor sich hin. Sonntags in die Gottesdienste kommen nur noch eine Handvoll Leute. Doch dann kommt der junge Pater Paul Hill auf die Insel, er springt für ein paar Wochen für den kranken, alten Monsignore John Pruitt ein. Und mit ihm kommt Bewegung sowohl in das weltliche als auch das geistliche Leben der Inselbewohner.
„Die meisten finden im Knast zu Jesus.“
Eigentlich war der junge Riley Flynn immer ein gläubiger Mensch. Bis zu jenem Tage, an dem er unter Alkoholeinfluss einen Autounfall verursacht und dadurch für den Tod jungen Frau verantwortlich ist. Flynn, Hauptfigur der Serie, kommt aus einer strenggläubigen katholischen Familie, die ebenfalls in der Serie vorgestellt wird. Die erste Folge beginnt mit jenem furchtbaren Unfall, und der Zuschauer begleitet fortan Flynn auf seinem Leidensweg, der geprägt ist von Schuldgefühlen und der Suche (zurück) nach Gott. So ist denn auch die erste Einstellung der Serie ein Fisch-Aufkleber auf dem verunglückten Auto. Flynn, der überlebt hat, kann seine Schuld nicht fassen und betet ein Vaterunser. Ein Sanitäter unterbricht ihn und sagt: „Wo Sie schon dabei sind: Fragen Sie ihn mal, warum er immer die Kinder nimmt, und die Besoffenen mit Kratzern davonkommen lässt.“
Nach einer vierjährigen Gefängnisstrafe kommt Flynn auf Crockett Island zurück, und wird hier wieder massiv mit dem Thema Glaube und Kirche konfrontiert. Hier scheint jeder der verbliebenen 127 Bewohner christlich zu sein, viele gehen regelmäßig in die Kirche, aber vor allem handeln die meisten Dialoge dieser Serie in irgendeiner Form vom Glauben. Flynn selbst und sein Bruder waren Messdiener, die Mutter hat jeden Tag in der Kirche einen Rosenkranz für ihren inhaftierten Sohn gebetet, permanent loten die Personen den rechten katholischen Glauben aus. Etwa: Darf der ungläubig gewordene Flynn eigentlich im Gottesdienst an der Kommunion teilnehmen, obwohl er doch „nicht im Gnadenstand“ ist? Er selbst sagt: „Es ist schon witzig. Die meisten finden im Knast zu Jesus.“ Er selbst aber habe als erstes die Bibel weggeworfen und stattdessen viele Bücher über andere Religionen gelesen. „Ich wollte auf der Suche nach Gott überall nachsehen. Am Ende war ich Atheist.“ Der neue Pater weist ihn aber darauf hin, dass Jesus ja gerade auf die Sünder zugegangen sei.
Und so geht das weiter: Es wird ständig über den Glauben diskutiert, und sei es über die richtige Farbe des Priestergewandes oder die im Gottesdienst verwendete Bibelübersetzung. Alle im Dorf sind sehr katholisch, nur der Sheriff ist Muslim, und selbst der wird aufgerufen, sonntags in die Kirche zu kommen. Es scheint, als habe hier ein Drehbuchautor viele offene Fragen (oder Rechnungen?) mit der Kirche zu klären.
Pater Hill hilft Riley in seelsorgerlichen Gesprächen, in denen es mehr über Gott als über die Welt geht, und der Zuschauer darf auch hier lauschen. Zwischen die üblichen Kritikäußerungen zur Kirche („Überall in der Welt gibt es diese kleinen verarmten Dörfer mit großen schicken Kirchen, die immer größer und schicker werden, während die Orte verdorren. Die Kirchen tauchen einfach auf wie dicke kleine Zecken, die die Orte aussaugen.“) lässt Flynn seinen Frust über Gott los. „Gott hat alles zugelassen“, sagt er über den Unfall, den doch eigentlich er selbst verschuldet hat.
Und dann kommt der Grusel
In diese theologischen Unterhaltungen bricht dann ein handfestes Wunder hinein: Pater Hill vollbringt ein Wunder, er macht, dass die junge Lisa, die im Rollstuhl sitzt, wieder gehen kann, und damit löst er eine religiöse Begeisterung im Dorf aus, die alle erfasst. Die Kirche ist sonntags rappelvoll, die Dorfbewohner hängen an Pater Hills Lippen, und Lisa geht zu dem Mann, der ihr mit seiner Jagdflinte in die Beine geschossen hat und vergibt ihm. Und sogar der Sohn des muslimischen Sherrifs interessiert sich plötzlich brennend für Jesus. Was wiederum lange theologische Diskussionen auslöst.
Dann häufen sich immer mehr die Gruselelemente, und die Horrorfans kommen endlich auf ihre Kosten. Eine stürmische Nacht, viele tote Katzen, die am Strand angeschwemmt werden, blutige Augen, ein Toter, der zum Leben erweckt wird, und spukt da nachts nicht der alte Monsignore am Strand herum? Nach der „religiösen Erweckungsphase“ folgt das Grauen, und es wird auf einmal klarer, warum die amerikanische Horror-Serie erst ab 16 Jahren freigegeben ist. Die theologischen Dispute in den ersten Folgen waren wohl nicht der Grund. Ein furchteinflößender Engel, oder vielmehr ein Dämon, mit großen Flügeln tritt auf und leuchtet mit seinen Augen in der Dunkelheit.
Die sieben Folgen von „Midnight Mass“ sind zwar nach Büchern der Bibel benannt, also „Genesis“, „Psalmen“, „Klagelieder“ und so weiter, aber spätestens hier wird klar, dass die Serie wohl doch nicht als Anschauungsmaterial für Konfirmanden gedacht ist. Bis dahin wundert man sich, welche tiefgehenden Glaubensfragen auch im Horror-Genre Platz haben. Vielleicht ja nur zum Gruseln.
„Midnight Mass“, 2021, Netflix, sieben Folgen zu je 60min, Drama, Horror, ab 16 Jahre