PRO: Herr Rohde, wie kann ein Staat für stabile politische Verhältnisse sorgen?
Rohde: Die Frage gewinnt bei zunehmender Digitalisierung und Globalisierung an Bedeutung. Die Entscheidungssysteme müssen transparent sein. Bürger müssen nachfragen können und dann sollten Politiker Rechenschaft ablegen über die Entscheidungen. Für stabile politische Verhältnisse ist es wichtig, die Gesetze konsequent und für jeden gleich anzuwenden. Es darf keine „No-Go-Areas“ oder Kulturboni für gewisse Kulturen geben. Die Bürgerfreiheit ist gerade in der jetzigen Situation von zentraler Bedeutung. Ich muss Herr über mein Leben sein. Der Staat muss dem Bürger dienen.
Wie bewerten Sie das aktuell in Deutschland?
Die Situation hat sich in den letzten sechs bis acht Jahren leider geändert. Ich hatte großes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Die Pandemie und die Debatte um die Zuwanderung haben aber auch gezeigt, dass das Vertrauen in die Urteils- und Handlungsfähigkeit der Bürger von Seiten der politischen Eliten nachgelassen hat. Politik sollte die Bürger nicht manipulieren, sondern sie aufklären und ihr kritisches Urteil abwarten.
Was kennzeichnet für Sie eine gute politische Ethik?
Sie vertraut dem freien Urteil des Bürgers und beinhaltet ein realistisches Menschenbild. Die Bürger müssen nicht erzogen werden, ökologisch zu handeln oder gendergerecht zu sprechen, sondern sich diese Werte selbst erarbeiten. Der Mensch soll sich an wesentliche Grundregeln des Zusammenlebens halten müssen. Darüber hinaus muss allerdings ein möglichst breites Feld für die Verwirklichung eigener Pläne und eigener moralischer Maßstäbe gegeben sein.
Hat Deutschland auf Grund seiner Geschichte einen Sonderstatus bei Krieg und Frieden?
Definitiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland aufgeteilt und unter den Zwängen des Kalten Krieges wiederbewaffnet. Im Schatten der USA sind wir dann zu einer wichtigen Handelsmacht geworden. Nach der Wiedervereinigung ist die pazifistische Sonderrolle der Deutschen in Europa allerdings nicht mehr so gefragt. Etliche Länder kritisieren, dass sich die Deutschen von ihrer politischen Verantwortung freikaufen wollen. Es entstand der Eindruck, dass wir in die Einsätze in Afghanistan und Mali hineingezwungen wurden. Wenn wir Kriegseinsätze nicht mehr Kriegseinsätze nennen, ist das heuchlerisch und verlogen. Auch gegenüber den Soldaten, die dort ihr Leben opfern. Von daher beanspruchen wir gegenwärtig zu Unrecht einen moralischen und strategischen Sonderstatus.
Seit wann spielt eigentlich Religion im politischen Handeln eine Rolle?
Ketzerisch geantwortet: Seit sich die Menschheit zivil organisiert hat. Von der Antike bis zur frühen Neuzeit haben sich Menschen und Herrscher auf Gottes Gnadentum berufen. Religion war stets die wichtigste Legitimationsquelle. Die Herrscher konnten sagen: „Ich bin von Gott gesandt. Deswegen sind mein Urteil und meine Gesetze richtig.“
Wie sieht das in der Gegenwart aus?
Zwei große Ereignisse haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass Religion ein wichtiger Faktor in der Weltpolitik ist. Aus der Revolution im Iran 1979 unter Ayatollah Chomeini ist die bis heute einzige wirkliche Theokratie entstanden, die sich diesen Anspruch gibt. Bei den Anschlägen vom 11. September haben wir gesehen, dass religiös motivierte Kräfte Anschläge ausüben oder Ereignisse auslösen können, die die Weltpolitik massiv beeinflussen.
Wie loyal müssen Christen gegenüber dem Staat sein?
Das hängt stark vom Gewissen des Einzelnen ab. Ein Christ sollte aktiver und loyaler Staatsbürger sein, der Steuern zahlt. Natürlich wird immer die Bibelstelle in Römer 13, Vers 1 bis 4 genannt, in der Paulus Christen dazu auffordert, bedingungslos der Obrigkeit untertan zu sein. Allerdings kannte Paulus damals auch noch keine Despotien, sondern nur das moderne Bürgerrecht der Römer. Deswegen konnte er es auch so absolut fordern.
Wo hat die Loyalität ihre Grenzen?
Die Grenze ist natürlich dort, wo Menschenrechte von offensichtlichen Despoten eklatant beschädigt werden, wie im Dritten Reich oder in anderen Völkermord-Situationen. Dietrich Bonhoeffer hat sich lange mit der Frage des Tyrannenmordes gequält und ist dann zu dem Urteil gekommen, dass es legitim ist, einen Despoten wie Hitler zu töten, um viele andere Leben zu retten.
Müssen Christen Pazifisten sein?
Ich darf als Staatsbürger natürlich in der Exekutive tätig sein. Als Polizist darf ich im Zweifel bei einer Demonstration den Schlagstock oder das Pfefferspray nutzen oder als Soldat das Gewehr. Diese Rolle ist legitim für einen Christen. Wenn mir jemand persönlich in einer Beziehung Unrecht tut, dann soll ich Nachteile in Kauf nehmen, vergeben, besprechen und weiterziehen. Aber ich kann nicht als Verantwortlicher für ein Gemeinwesen dort meine Nächstenliebe so preisgeben, dass ich die staatliche Existenz riskiere.
Martin Luther hat mit seiner Zwei-Reiche-Lehre Standards für das Verhältnis von Statt und Religion gesetzt. Sind diese noch zeitgemäß?
Die Zwei-Reiche-Lehre wurde Luther Anfang der 1920er Jahre von Karl Barth in den Mund gelegt. Luther hatte nie eine explizite politische Ethik. Die Trennung der Ebenen ist für mich aktueller denn je. Unser Staat neigt zu einer großen Ideologisierung und Erziehung des Volkes. Ich halte es für sehr gefährlich, wenn man Dinge undemokratisch durchpeitschen möchte. Gegen die von Luther geforderte Trennung der beiden Reiche wird heutzutage meiner Ansicht nach verstoßen.
Wie meinen Sie das?
Der Staat hat Kernaufgaben: die Sicherheit, Ordnung und grundsätzliche Versorgung des Einzelnen zu sichern. Aber er darf nicht ideologisch ausgerichtete wie bedingungslose Klimarettung und andere Dinge als Ideologie fordern, sondern muss sich auf realistisch organisierbare Maßstäbe beschränken. Auf diese Trennung hat uns Martin Luther hingewiesen. Sie gewährleistet Pragmatismus und Stabilität. Die Gefahren sind für ihn beidseitig: Entweder die Kirche wird politisiert, dann maßt sie sich weltliche Macht an oder der Staat wird metaphysisch und religiös aufgeladen, mit all den vorstehend genannten Nachteilen. Das sind die beiden Fehler, die Luther sehr modern erkannt hat. Deswegen ist Luthers Trennung immer noch elementar wichtig.
Sie wünschen sich eine andere Priorisierung…
Die Kirche muss Seelsorge gewährleisten und das ewige Leben predigen. In der Katholischen Kirche sehe ich eine Spaltung durch den Synodalen Weg und die eher konservativen Kräfte. Ich bin Anhänger von Joseph Ratzinger, der seinen Blick auf Christus und das Evangelium lenkt. Es gibt natürlich auch ganz tolle Gläubige in den protestantischen Kirchen, die Umkehr, Buße und das ewige Leben predigen.
Das bedeutet, die protestantische Kirche nutzt ihren Einfluss zu wenig…
Ja. Ich halte die katholischen Friedensinitiativen für effektiver. Da entstehen gerade viele freikirchliche Gemeinden, die viel konsequenter ein Leben in Nachfolge fordern als die beiden großen Kirchen. Es gibt natürlich auch dort lobenswerte Ortsgemeinden. Aber wenn man sich die Kirchentage anschaut, erinnert das eher an einen Grünen-Parteitag.
Wo bietet die Bibel wichtige Anregungen, wie wir Friedenspolitik gestalten können?
Der kollektive Friede hing beim Volk Israel davon ab, ob man loyal zu Gott stand oder ihm nicht vertraute. Wenn man sich dann anschaut, wie Jesus mit seinen Jüngern umging und wie er sie lehrte, dann ist das gelebte Friedensarbeit. Vor allem die Propheten Amos und Jesaja sind hier sehr modern. Es gibt auch durchaus politische Rezepte, die heute eher neo-marxistisch klingen würden, die aber durchaus aus der Schrift abzuleiten sind. Der größte Sozialphilosoph ist meiner Ansicht nach Amos. Aber auch Jesaja ruft dazu auf, Gottes Gerechtigkeit zu achten, wenn wir Frieden haben wollen. Jesus war auch ein Lehrer des inneren Friedens und er hat Menschen zu moralischen Führungskräften ausgebildet. Sie sind Multiplikatoren und schaffen Boden für den öffentlichen Frieden.
Wie haben sich die Kriege in den vergangenen 50 Jahren verändert?
Die Katholische Kirche als politischer Akteur ist quasi aus der Urgemeinde entstanden, als Konstantin das Christentum zur Staatsreligion gemacht hat. In der katholischen Tradition gibt es die Theorie des gerechten Krieges. Ihr zufolge gibt es in bestimmten Situationen legitime Gründe zur Kriegsführung. Heute ist Papst Franziskus eher in Richtung Pazifismus unterwegs. Aber der Krieg an sich ändert gegenwärtig seinen Charakter. Er wird nicht mehr unbedingt von staatlichen Akteuren geführt, sondern viel häufiger von privaten Akteuren oder Söldnerarmeen, die mit verdeckten und hybriden Mitteln arbeiten.
In der Kriegsführung?
Es gibt sehr viele Kriege, die nicht mehr enden. Sie sind eingefroren, weil die Menschen beispielsweise in Afrika als Soldaten ein Vielfaches von dem verdienen, was sie in einem Zivilberuf verdienen können. Deswegen haben tausende Menschen ohne Ausbildung ein großes Interesse daran, dass diese Kriege weitergeführt werden. Krieg ist ein ökonomisierter Selbstzweck und dient nicht mehr der Eroberung von Territorien. Natürlich gibt es auch die Großkonflikte zwischen China und USA im südchinesischen Meer, wo die Flotten aufeinanderstoßen, und die Gefahr eines Atomkriegs wird es weiterhin geben; auch regionale Auseinandersetzungen wie Russlands neo-imperiales Gebaren in der Ukraine.
Sie schreiben in ihrem Buch: „Der Frieden in dieser Welt hängt stark davon ab, ob viele Menschen Frieden mit Gott geschlossen haben“. Ist das aus Ihrer Sicht das Rezept für eine friedliche Welt?
Die Amtskirchen und andere christliche Gemeinschaften werden heute oft als Institute für Kinderschändung und Heuchelei angesehen. Große Persönlichkeiten wie Bischof Desmond Tutu, Nelson Mandela oder eben Papst Johannes Paul II. haben mit ihrem persönlichen Einsatz und Leid allerdings gezeigt, wie man große Friedensprozesse anstoßen kann. Deswegen halte ich es für wichtig, dass Christen die Botschaft der Versöhnung, der Umkehr und der Auferstehung verkündigen. Je mehr Menschen das Salz der Welt sind, desto eher sind solche Friedensinitiativen erfolgreich. Eine realistische Friedensstrategie darf aber nicht nur glaubensabhängig sein. Die Ebenen muss ich schon trennen. Deswegen müssen Päpste ihre moralische Autorität deutlich in die Welt leuchten lassen.
Sind für Sie bei den Päpsten Linien erkennbar? Oder gibt es da auch Brüche?
Wir haben hier ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, die sich auf ihre Art und Weise in die Friedensprozesse eingebracht haben. Johannes Paul II. hat als Pole die Solidarnosc-Bewegung gestärkt. Papst Benedikt hat auch wichtige Initiativen gestartet, aber eher auf einer intellektuellen Ebene und als diplomatischer Akteur. Franziskus wiederum betont ganz klar Friedensprozesse in Verbindung mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Als Argentinier steht er ja auch der Befreiungstheologie relativ nahe. Er ist da etwas stärker auf der Bühne als Benedikt.
Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft?
Wir haben momentan viele parallele Krisen. Trotzdem glaube ich an eine Zukunft des Glaubens, auch wenn die Gläubigen weniger werden. Die Botschaft der Liebe und der Hoffnung ist attraktiv. Gerade in den Krisenzeiten sollten Christen die Botschaft der Auferstehung verkündigen. Ich bin kein Klima-Apokalyptiker noch habe ich Angst vor einem Atomkrieg, aber wir müssen mit der Schöpfung als Geschenk verantwortlich umgehen. Ich glaube, wir haben es Gottes Gnade zu verdanken, dass es zu keinem Atomkrieg gekommen ist. Deswegen glaube ich, dass Gott uns noch mehr Zeit gibt, um uns in seine Richtung zu begeben und Menschen zu missionieren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Christoph Rohde ist promovierter Politikwissenschaftler mit Nebenfach Volkswirtschaft und Kommunikationswissenschaft in München. Er ist gelernter Industriekaufmann. Der katholische Christ war lange Jahre in Freien Gemeinden aktiv. Aktuell engagiert er sich in der Katholischen Kirche. Außerdem arbeitet er als Dozent in gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen und medienpolitischen Fragen.
2 Antworten
Herr Rohde gibt viele nachdenkenswerte und tiefsinnige Anregungen. Danke für dieses Interview!
Irgendwie gut, was er schreibt.