Wer eine gefühlte Ewigkeit im Kanzleramt regieren darf, wandelt gelegentlich in lichten Höhen – und erlebt zwangsläufig düstere Tiefen. Auf den letzten Metern ihrer bald 16 Jahre währenden Amtszeit lernt Angela Merkel die Niederungen der Politik allerdings in einer Weise kennen, die beispiellos ist in der jüngeren Geschichte.
Nie zuvor hat man einen deutschen Regierungschef öffentlich derart unverblümt und verbal geradezu entwaffnend über eigenes Scheitern reden hören. In einer eilig einberufenen Pressekonferenz verkündete Merkel in etwas mehr als zwei Minuten, dass sie die völlig missglückten Corona-Beschlüsse der Bund-Länder-Runde für eine verlängerte „Osterruhe“ kurzerhand gestoppt habe.
Ein Teil der Beschlüsse, die sie Montagfrüh nach zwölfstündigem Streit mit 16 übermüdeten Länderchefs getroffen hatte, sei ein „Fehler“ gewesen. Für das Debakel übernahm Merkel ausdrücklich die persönliche und alleinige Verantwortung: „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler, denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. Qua Amt ist das so“, sagte Merkel.
Wo die Kanzlerin irrte
Außerdem bekannte die Kanzlerin, ihr sei sehr bewusst, dass dieses öffentlich nicht mehr vermittelbare Hin- und Herentscheiden des Bund-Länder-Spitzenpersonals die Menschen im Land zusätzlich verunsichern würde: „Das bedauere ich zutiefst und dafür bitte ich die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.“
Die Worte Merkels dürften ehrlich gemeint sein. In einem Punkt aber irrte die Kanzlerin: Sie kann die Verantwortung für die Fehler der traurigen Bund-Länder-Runde gar nicht „qua Amt“ übernehmen. In diesem vom Grundgesetz nicht vorgesehenen Gremium kann Merkel nur auf ihre persönliche Autorität bauen. Zwar stattet das Grundgesetz das höchste Regierungsamt mit einer sehr wirksamen „Richtlinienkompetenz“ aus.
Aber die gilt eben nur für die Bundesregierung, nicht für die Bundesländer. Mit ihrem Vorstoß hat die Bundeskanzlerin Vabanque gespielt: Von den 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, die von Merkel regelrecht überrascht wurden, hätten einer oder mehrere ihr mit gutem Recht öffentlich in den Rücken fallen können. Aus verfassungspolitischen Gründen hätte ein solcher Konflikt womöglich einen realen Rücktrittanlass für die Bundeskanzlerin provozieren können.
Worte fürs Geschichtsbuch
„Einzig und allein mein Fehler“; „Das bedauere ich zutiefst“; „Dafür bitte ich … um Verzeihung“: Diese Sätze von Angela Merkel werden nachhallen. Sie sind schon jetzt Worte fürs Geschichtsbuch.
Wenn Zeithistoriker einmal die Regierungszeit Merkels bilanzieren werden, dann wird diese Ära nicht nur durch die Finanz- und Flüchtlingskrisen, sondern auch vom Ende her interpretiert werden: Dabei ist zunächst unbestreitbar, dass die Corona-Pandemie Herausforderungen mit sich brachte, die es in der jüngeren Geschichte so noch nie gab.
Dennoch ist unübersehbar: Aktuelle Politikanalysten angesehener Medien sprechen vielen aus der Seele, wenn sie von „Staatsversagen“ oder einer „verheerende(n) Vertrauenskrise“ (FAZ) sprechen. Aber wird das Schuld- und Versagenseingeständnis der Kanzlerin später tatsächlich als peinlicher „Offenbarungseid“ eingeordnet werden, wie es ein Leitartikler in einer Spontan-Analyse deutet? Viele Millionen Corona-Frustrierte, Politik-Enttäuschte und Erschöpfte mögen es aktuell genauso empfinden.
Wahrscheinlich sind es derzeit nur wenige, die die Worte Merkels, mit denen sie „klipp und klar“ krasse Fehler eingestand, als positiven Beitrag zur politischen Kultur ansehen können. In Zeiten aggressiver Shitstorms und beschämender Hassbotschaften, die selbst einem vorbildlichen Demokraten und Ex-Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) in seiner eigenen traditionsreichen Partei um die Ohren fliegen, sind leise oder defensive Worte des ehrlichen Bedauerns offenbar kaum noch vermittelbar.
Manche mögen den Vorstoß Merkels als Masche, als Taktik, als heuchlerischen Trick oder gar als Akt der Verzweiflung deuten. Möglich wäre aber auch, dass sich hier, in diesem bemerkenswerten Auftritt Angela Merkels, einfach nur eine sympathisch-menschliche Regung einer Regierungschefin zeigt: Eine Bundeskanzlerin, die sich der Grenzen ihrer Möglichkeiten und der Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz zutiefst bewusst ist. Die einfach nur offen und ehrlich zugeben und nicht drum herumreden will: dass sie Fehler macht. Dass die vermeintlich Mächtigen manchmal ziemlich ohnmächtig sind. Und dass die Kanzlerin samt der müden Länderchefs derzeit nicht nur menschlich, sondern durch die Bedingungen des Föderalismus auch strukturell überfordert sind.
Entschuldigung der Pastorentochter
Im Fall der seit ihrer Kindheit auch von christlichen Werten geprägten Pastorentochter Angela Merkel dürfte es gar nicht so unwahrscheinlich sein, dass die Bundeskanzlerin einfach die Wahrheit sagen wollte. Eine christlich sozialisierte Regierungschefin – die natürlich nicht alles, was schiefläuft, selbst verbockt hat –, sagt öffentlich, sie übernehme die alleinige Verantwortung: Das geistesgeschichtliche Vorbild hierfür kann man, zumal in der Passionszeit, letztlich in der christlichen Versöhnungslehre lokalisieren.
Die Erklärung der Bundeskanzlerin ist wohl von historischer Bedeutung. Sie muss aber real- und tagespolitisch heruntergebrochen werden. Wenn Merkel abschließend sagt, das Virus werde „langsam aber sicher seine Schrecken verlieren“, aber der Weg dahin sei „hart und steinig“, dann kann das nicht befriedigen. Textbausteine im Stil einer behaglichen Neujahrsansprache taugen nicht als Problemlöser.
„Wenn Fehler gemacht werden, dann müssen sie auch als solche benannt werden“, sagt Merkel zu Recht. Die Kanzlerin darf jedoch auf den letzten Metern ihrer Amtszeit nicht dabei stehen bleiben, nur das Kommunikationsmanagement der Bund-Länder-Runde infrage zu stellen. Wer das Corona-Virus besiegen will, braucht dafür nicht nur wirksame Impfstoffe. Unabdingbar ist endlich auch eine zielführende Verteilungs- und Anwendungsstrategie.
Wer Fehler benennen und sie korrigieren will, muss bei der Impfstrategie anfangen. Sofort.
9 Antworten
Worte fürs Geschichtsbuch? Christlich geprägte/sozialisierte Kanzlerin? Nun ja… –
Viel besser wäre es natürlich, wenn die (vormalige FDJlerin) Angelan Merkel Taten für die Gegenwart hätte sowie überzeugende Konzepte für die nächste Zukunft!
Einmal mehr versteigt sich Herr Irion zu einer unangemessenen Laudatio. Aber bei der Frau Kanzlerin wird er ja gern überschwänglich.
Wo hat das letzte Mal jemand in verantwortlicher Position solche Worte gesagt? Ich bin wirklich gespannt, wen Sie mir nennen – egal aus welchem Bereich: Kirche, Politik, Sport, Medien, Kultur…! Ich kann mich nur an eine Person erinnern: Frau Käsmann. Da werden viele hier entsetzt aufschreien, man muss nicht alles gut finden, was Frau Merkel und Frau Käsmann sonst noch gesagt und getan haben – aber hier zeigt sich für mich menschliche Größe! Sonst höre ich nämlich nur: andere sind Schuld/ eigentlich ist alles ganz anders/ das war nicht so gemeint/ Lügenpresse/ immer nur zugeben, was man gar nicht mehr leugnen kann… Und für mich (aber das ist jetzt absolut meine Interpretation) spricht daraus ein „sich von Gott gehalten wissen“ – wie sonst kann man den Mut aufbringen, Fehler zugeben?
Ganz im Ernst: welchen Fehler hat Frau Merkel denn wirklich zugegeben?
Frau Merkels sog. ‚Entschuldigung‘ war, wie üblich bei ihr, eine machtpolitisch kalkulierte Aktion zur Schadensbegrenzung und zum Zweck politischer public relations: die beseligte Reaktion vieler Medien zeigt, dass das (wieder mal) erfolgreich war. (Auch Herr Irion gehört hier leider dazu.)
Wenn Sie sich die anschließenden Äußerungen des Kanzlerin, zuletzt bei Anne Will, genauer anschauen, dann sollte die rührselige Mär von der Entschuldigung eigentlich schnell vom Tisch sein. Da war der Tenor ihrer Worte deutlich anders: Sie hat nichts falsch gemacht, die anderen sind schuld und sie könne auch anders… – In Anbetracht des von ihr „qua Amt“ zu verantwortenden Regierungsversagens (v.a. keine Konzepte, keine Teststrategie, Impfdesaster) eine bemerkenswerte Kaltschnäuzigkeit gegenüber den Nöten und Sorgen vieler Bürger!
Im ARD bewertete der Journalist die Entschuldigung Merkels als „vergleichsweise klein“, was die Kanzlerin sofort richtigstellte und die Bedeutung dieses Schrittes betonte.
Ich kann mir nicht helfen, diese inszenierte Demut finde ich eher peinlich.
Es scheint, dass Angela Merkel am Ende ihrer Amtszeit auch ihr letztes Markenzeichen verspielt, nämlich die Schlichtheit des Auftritts.
Meine Güte was hat die Frau alles vergeigt, ich würde mich auf den Herbst freuen, wenn etwas besseres nachkommen würde, aber die Hoffnung schwindet.
Wie grenzenlos naiv und unwissend um die Psychologie dieser Frau!
Wenn wegen irgendeiner Mutante ein totaler Lockdown möglich werde sollte kann niemand etwas dagegen haben. Nur muß das in einer so komplexen Gesellschaft wie bei uns, um unnötige Schäden zu vermeiden, rechtzeitig geplant und organisiert sein. Dass die Kanzlerin und 16 Ministerpräsidenten mit ihren ganzen Beraterstäben nicht absehen können welche Folgen eine so kurzfristige Entscheidung zu Folge hat nicht absehen können ist für mich absolut nicht verständlich. Dass ein Einzelner einen solchen Vorschlag bringt kann ja sein. Dass aber 16 plus x Leute dies einfach abnicken und nicht massiv intervenieren muß doch die Frage erlauben ob wir geeignetes Führungpersonal haben. Wenn wir die anderen Themen wie Umgang mit Wirecard, Masken und Impfchaos und anderes mehr anschauen befinden wir uns in einer massiven Staatskrise und das zeigt, dass unser Land keine Krise (mehr) kann
Ausserdem hat Merkel mit ihrem Rückzieher in Sachen Corona noch zusätzlichen Schaden beigefügt: Entweder trauen sich nun die Regierenden nicht mehr harte Forderungen zu stellen, wenn nötig wegen dem Shitstorm der dann entstehen könnte. Oder wir nun gemeint jede weitere notwendige Maßnahme auf diesem Weg zu Fall bringen zu können. Die handelnden Personen müssen nun schnellstens umdenken um wirklich im Sinne ihren Eids zu handeln, nämlich unter anderem um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Da reicht entschuldigen alleine nicht sondern um Sinneswandel
Für mich ein sehr beeindruckendes Beispiel von Demut – am Ende einer sehr erfolgreichen Regierungszeit kann ich hier kein Kalkül o.ä. sehen. Im Gegenteil, ich würde mir solche Worte auch von anderen Politikeren wünschen
„Wer das Corona-Virus besiegen will, braucht dafür nicht nur wirksame Impfstoffe. Unabdingbar ist endlich auch eine zielführende Verteilungs- und Anwendungsstrategie,“ Ihr Kommentar.
Wir benötigen keine Testungen und keine Impfstoffe für diese C-Erkrankung, die bald mehr Tote fordert als die Erkrankung – informieren Sie sich doch einmal bei z.B. Prof. Hockertz und anderen.
Dieses Abwerten aller, die es anders sehen – das machen Sie doch gerade hier oder sehe ich das falsch? Denn ich habe mich informiert!!! – und in vielem (nicht allem!) überzeugen mich die Ansichten von Herrn Drosten, Frau Merkel… einfach mehr. Nur zwei Beispiele: die Kritik von Herrn Wordag an der WHO – absolut berechtigt, aber schon uralt. Die Wissenschaftler, die den PCR Test kritisieren (z.B hier: http://www.zentrum-der-gesundheit.de/news/gesundheit/covid-19/pcr-test-unzuverlaessig) überzeugen mich kein bisschen – ich habe jeden der Wissenschaftler gegoogelt, ich habe gelesen – bisher überzeugt mich trotzdem der PCR Test mehr!!!