Wolfgang Kubicki ist nicht dafür bekannt, sich über verbale Angriffe auf seine Person zu beschweren. Eher ist man geneigt zu vermuten, er proviziere sie hin und wieder ganz gerne. Auch beim Treffen mit pro wird er nicht müde zu betonen, dass er Kritik abkönne und gerne auch mal zurückschieße.
Und dennoch: An diesem Tag klingt in seinem Bundestagsbüro auch ein anderer Ton an. Der FDP-Politiker ist besorgt. Täglich erhalte er beleidigende Mails und Facebook-Einträge, an Wortlaute wie „Idiot“ bis hin zu der Aufforderung „doch endlich in Rente zu gehen“, habe er sich gewöhnen müssen. Doch in der Corona-Zeit habe sich der Ton spürbar verschärft, berichtet der FDP-Vizevorsitzende. „Ich sei ein Todesengel. Ich würde Menschenleben aufs Spiel setzen. Die Menschen sind bei dem Thema sehr emotional“, berichtet er von den Erfahrungen, die er etwa immer wieder macht, wenn er die Coronamaßnahmen der Bundesregierung und der Länder kritisiert. Und: „Ich habe das erste Mal, seit ich politisch aktiv bin, in den letzten Wochen Todesdrohungen bekommen. Das ist mir in dieser Tragweite noch nicht passiert.“
Dabei kämen die Angriffe von zwei Seiten. Einerseits von jenen, die wegen der Corona-Maßnahmen um ihre Existenz fürchteten und sich gegen die Politik im Allgemeinen stellten, die Kubicki als Bundestagsvizepräsident repräsentiert. Andererseits griffen ihn Bürger an, die schärfere Maßnahmen befürworteten. „Die Menschen sind verzweifelt“, bemüht sich Kubicki um Verständnis. „Ich kann mir vorstellen, dass jeder irgendwann ein Ventil für die Anspannung braucht, mit der wir alle seit Monaten leben.“
Wenn aus Netzhass reale Gewalt wird
Immer wieder haben Politiker der ersten Reihe in den vergangenen Monaten über persönliche Angriffe und Drohungen geklagt. Und zwar quer durch die Fraktionen. Karl Lauterbach (SPD), Dorothee Bär (CSU), Bodo Ramelow (Linke), Renate Künast (Grüne) – die Liste ließe sich beliebig fortführen. Dass sich hinter den Drohungen im Netz echte Gefahren verbergen, hat nicht zuletzt der Doxing-Skandal deutlich gemacht: Durch einen Hackerangriff wurden Ende 2018 die persönlichen Daten von knapp 1.000 Personen des öffentlichen Lebens zugänglich – darunter die Telefonnummern und Privatadressen von Journalisten und zahlreichen Politikern des Deutschen Bundestages. In einer breiten Recherche ermittelte die Tagezeitung (taz) im selben Jahr unter dem Titel „Hannibals Schattenarmee“, wie weitreichend die Hassattacken gegen Politiker gehen könnten: Der Artikel belegt die Existenz einsatzbereiter und bewaffneter Untergrundkämpfer aus dem rechtsextremen Umfeld. Berühmte Persönlichkeiten, deren Namen sich auf den Todeslisten solcher Netzwerke wiederfinden, haben offenbar allen Grund, beunruhigt zu sein.
Auch im Hause Kubicki fürchtet man mittlerweile Angriffe im privaten Umfeld. Seine Frau frage ihn neuerdings, bevor sie Briefe öffne, ob er den Absender kenne, berichtet der Politiker. Kubicki warnt: „Ich befürchte, dass aus der Wut der Menschen auch Gewalt resultieren wird.“ Es gebe nicht wenige, die in Verschwörungstheorien gefangen seien und für rationale Argumente nicht mehr zugänglich. Da klingt es fast widersprüchlich, wenn er als Lösung vorschlägt, die offene Debatte über politische Inhalte mehr zu pflegen: „Wir müssen uns wieder angewöhnen, zu akzeptieren, dass es andere Auffassungen gibt – und diese auch zu diskutieren.“ Denn auch im politischen Diskurs habe die persönliche Diskreditierung zugenommen. „Wir Politiker haben uns in den vergangenen Jahren immer weniger mit Argumenten beschäftigt, sondern die Menschen einfach einsortiert.“ Und was ist nun mit jenen, die nicht an der Debatte interessiert sind? Um die gehe es nicht, sagt Kubicki: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht noch mehr Menschen verlieren.“
„Es gibt eine bewaffnete Gefahr“
Renate Künast ist erfahren, was den Netzhass angeht, sie hat sogar ein Buch darüber veröffentlicht. Für „Hass ist keine Meinung“ ist sie 2017 den Spuren der Hater nachgegangen, klingelte an deren Haustüren und bat sie ums offene Gespräch. Sie widerspricht Kubicki: Die Angreifer seien eben nicht die Entrechteten, mit denen man Mitleid haben müsse. Sondern ganz oft wohlbetucht. Im Interview mit pro spricht sie von einer ganzen „Szene, die mit Begeisterung hatet“. Früher seien vor allem Frauen, Homosexuelle oder die Angehörigen religiöser Gruppen in deren Fokus gewesen – nun komme die Gruppe derjenigen dazu, die wegen ihrer Äußerungen zu Corona in den Schlagzeilen stünden wie Lauterbach oder der Virologe Christian Drosten.
Im vergangenen Jahr hätten sich Hassausdrücke im Netz immer mehr manifestiert, seien sozusagen salonfähig geworden – auch jenseits rechtsextremer Zirkel. Künast spricht von vielen „Mitläufern“, doch es gebe auch einige, die gezielt Hass säten, etwa um Politiker zum Rückzug zu bewegen. „Deren Ziel ist Zersetzung“, sagt die Bundestagsabgeordnete und warnt: „Der alltägliche Hass schafft eine Umgebung, in der es auch zu Taten kommen kann. Es gibt eine bewaffnete Gefahr.“ Das habe nicht nur der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gezeigt.
Doch was tun, wenn man sich angegriffen sieht? Künast selbst ist immer wieder vor Gericht gegangen, hat auch gewonnen. Der Aufwand dafür aber war massiv. Meist werden die Verfahren wegen Netzangriffen schlicht eingestellt. „Ich rate dazu, die Angriffe öffentlich zu machen“, sagt Künast. Und nicht nur, wenn sie bekannte Persönlichkeiten träfen: „Erzählen Sie es im Lehrerzimmer, erzählen Sie es im Kommunalparlament, egal wo Sie tätig sind.“ Denn das fördere die gesellschaftliche Auseinandersetzung. Außerdem rät sie dazu, immer Anzeige zu erstatten, egal wie groß die Erfolgsaussichten seien, damit die Taten in der Kriminalstatistik auftauchten.
Angriffe von Frommen
Mit Angriffen ganz anderer Art hat es der CDU-Abgeordnete Frank Heinrich zu tun. Bevor er in den Bundestag kam, war er Heilarmeeoffizier. Heinrich ist Theologe und hat einen evangelikalen Hintergrund. Gegenüber pro berichtet auch er: „Die Leichtfertigkeit, mit der Beleidigungen ausgesprochen werden, hat zugenommen.“ Sogar anonyme Morddrohungen habe er bereits erhalten. Für ihn als Christen viel bitterer aber ist dieses: Unter den Zuschriften fänden sich immer wieder auch jene, die Bezug zur Bibel nähmen und so wütende Ausbrüche rechtfertigten.
Heinrich zeigt sich schockiert darüber, dass manche Christen Bibelzitate benutzten, um die Corona-Politik zu kritisieren. Angela Merkel werde in solchen Texten etwa vorgeworfen, Gott zu spielen, sie werde verflucht und beleidigt. Da sei von der Hure Babylon die Rede, personifiziert in der Bundeskanzlerin. Andere schrieben von der Endzeit und davon, dass Politiker sich vor Gott verantworten müssten für ihre Taten. Dass ausgerechnet Glaubensgeschwister sich so äußerten, macht Heinrich zu schaffen. Er habe sich das Ziel gesetzt, sich nicht vom um sich greifenden Hass anstecken zu lassen. Deshalb habe er sich Bibelworte gesucht, die er in den vergangenen Monaten immer wieder für sich wiederhole:
„Friede sei mit euch.“
„Richtet nicht.“
Und nicht zuletzt: „Fürchte dich nicht.“
Von: Anna Lutz