Restaurant oder Supermarkt, Synagoge oder Studentenwohnheim: Zahlreiche Kirchen überall in Europa erhalten zurzeit eine neue Funktion. Weil die Kirchengemeinden immer weniger Mitglieder und somit auch immer weniger Geld haben, entscheiden sich viele von ihnen, sakrale Gebäude aufzugeben und an neue Nutzer zu verkaufen.
Wie dieser Übergang möglichst gut gelingen kann, darüber debattieren zurzeit erstmals rund 350 Fachleute aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz und Großbritannien bei einem internationalen Online-Symposium, organisiert von der Volkswagenstiftung mit Sitz in Hannover.
Thema fristet ein Nischendasein
Zum Auftakt umriss die Architektur-Professorin Kerstin Gothe aus Karlsruhe am Montag die Dimension der Entwicklung, die seit rund zwei Jahrzehnten beständig fortschreitet: „Kirchenumnutzungen sind eine riesige Herausforderung“, betonte die Leiterin des Fachgebietes Regionalplanung und Bauen im Ländlichen Raum am Institut für Technologie in Karlsruhe: „Die Anzahl leerstehender oder untergenutzter Kirchen ist größer als öffentlich bekannt.“ An den Hochschulen friste das Thema allerdings noch ein Nischendasein.
Genaue Zahlen liegen nicht vor, doch der Trend ist deutlich erkennbar: Nach einer Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) wurden allein in der Evangelischen Kirche im Rheinland zwischen 2008 und 2018 insgesamt rund 150 Kirchen entwidmet. Die Landesinitiative Stadt-Bau-Kultur geht davon aus, dass rund ein Drittel der rund 6.000 evangelischen und katholischen Kirchen in Nordrhein-Westfalen auf Dauer leerstehen wird.
In anderen Regionen Deutschlands sind die Zahlen nicht ganz so hoch. In Niedersachsen etwa schlossen in den vergangenen Jahren mindestens 58 katholische und 27 evangelische Kirchen. In Bremen trennten sich die beiden großen Konfessionen von mindestens 14 Sakralgebäuden.
„Kirchengebäude haben immer der Gemeinschaft gedient“
Dabei stechen zahlreiche Einzelbeispiele hervor, denn die Umnutzung einer Kirche ist meist eine spektakuläre Aktion. So zogen im Sommer 2019 Studierende in die ehemalige Gerhard-Uhlhorn-Kirche in Hannover ein, die ein Investor zuvor zu einem Wohnheim umgerüstet hatte. Die hannoversche Gustav-Adolf-Kirche wurde 2009 zur Synagoge. Und in der Bielefelder Martini-Kirche eröffnete 2005 das Restaurant „Glückundseligkeit“.
Für die Architektur-Professorin Gothe sollte bei der Suche nach einer Nachnutzung stets die Gemeinschaftsorientierung im Mittelpunkt stehen. „Kirchengebäude haben immer den Gemeinschaften gedient, in deren Mitte sie errichtet wurden.“ Neue Nutzungen von Kirchen könnten neue Chancen eröffnen: für Kommunen, für die Gesellschaft – und auch für die Religionsgemeinschaften.
Solche Umnutzungen sind laut Gothe stets eine emotionale Sache. Denn als Schauplatz von Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten oder Beerdigungen sind Kirchen eng mit den Biografien vieler Menschen verbunden. Und mit ihren steil aufragenden Türmen prägen sie das Erscheinungsbild ganzer Städte und Dörfer.
Der niederländische Theologe und Liturgie-Experte Paul Post von der Universität Tilburg schilderte bei dem Symposium auch Beispiele aus den Niederlanden und Großbritannien, wo die Umnutzung entwidmeter Kirchen noch sehr viel weiter geht als in Deutschland. So wurde die ehemalige protestantische Bernadettekirche in Helmond bei Eindhoven zum Supermarkt der Kette „Jumbo“. Die Betreiber betonten, dass dort weiterhin auch sonntags geöffnet sei, berichtete Post.
Er rief dazu auf, eine Umnutzung sehr sorgfältig zu bedenken. Sie sei etwas viel Grundlegenderes als nur eine Wiederverwendung: „Wir sollten das Gebäude nicht nur irgendwie anders nutzen, sondern in ein neues Konzept gießen.“ Noch bis zum Mittwoch wollen die Fachleute neue Perspektiven und Kriterien dafür entwickeln. Das Symposium „Kirchenumnutzung – Neue Perspektiven im europäischen Vergleich“ sollte bereits im vergangenen Jahr als Kongress in Hannover stattfinden. Wegen der Corona-Pandemie wurde es nun als Videokonferenz nachgeholt.
Von: epd