Herr Siggelkow, das Kinderhilfswerk Arche feiert seinen 25. Geburtstag. Ist das für Sie ein Grund zur Freude oder eher zur Sorge?
Bernd Siggelkow: Ein Grund zur Freude ist es nicht. Denn der Erfolg der Arche beruht auf dem Misserfolg der Gesellschaft. Mir wäre es natürlich lieber, wir könnten die Einrichtungen schließen, weil es keine Kinderarmut mehr gäbe. Natürlich haben wir nach 25 Jahren Arbeit einiges erreicht und sind als glaubwürdige Organisation anerkannt. Das macht mich auch glücklich.
Was waren die Gründe, die Arbeit der Arche zu beginnen?
Ich bin selbst mit existenziellen Problemen aufgewachsen. Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Zu Hause gab es keinerlei Emotionen. Als Kind habe ich nicht gemerkt, was mir fehlt. Als Jugendlicher fragte mich ein Mitarbeiter der Heilsarmee, ob ich wüsste, dass da ein Gott ist, der mich liebt. Ich hatte davon keine Ahnung, wusste aber, dass es das ist, was mir fehlt. Ich bin Christ geworden und habe nach einer kaufmännischen Ausbildung noch Theologie studiert.
Mit weitreichenden Folgen…
Der Schwerpunkt lag in der Kinder- und Jugendarbeit. Ich wollte mit Kindern arbeiten, um zu vermeiden, dass sie so aufwachsen wie ich. 1992 kam ich nach Hellersdorf. Der östlichste Berliner Bezirk war der kinderreichste in Europa. Ich war entsetzt, wie wenig Perspektive die Kinder hatten. Mir war klar, dass sie jemand brauchen, der Zeit und Liebe in sie investiert. 1995 habe ich das Kinderhilfswerk Arche gegründet, das es mittlerweile an 27 verschiedenen Standorten in Deutschland, Polen und der Schweiz gibt.
Was hat sich im Rückblick auf die Arbeit der 25 Jahre verändert?
Die Arbeit fing in meinem Wohnzimmer an. Ich bin dann auf die Spielplätze gegangen und habe mich um die Kinder gekümmert. Ihnen fehlten tagsüber ihre Eltern. Neben Zeit und Zuneigung brauchten sie auch etwas zu essen. 2001 haben wir die ersten Suppenküchen gegründet und die Kinder versorgt. Der Mittagstisch in der Arche sollte den Magen der Kinder füllen, aber ihnen auch Gesprächspartner bieten. Wir wollten die Kinder schulisch unterstützen. Wir haben dann beschlossen, dass wir 24 Stunden am Tag erreichbar sein möchten. So hat sich die Arbeit der Arche mit jeder Notlage vergrößert. Durch Corona mussten wir uns innerhalb einer Nacht weiterentwickeln.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die junge Generation?
Für mich als Gründer war es schlimm, eine Organisation, die Kindern seit 25 Jahren einen sicheren Platz gibt, über Nacht zu schließen. Binnen kürzester Zeit mussten wir Konzepte entwickeln, wie wir die Familien trotzdem erreichen. Wir haben täglich 1.630 Familien zu Hause besucht und ihnen Lebensmittel und digitale Endgeräte gebracht. Darüber hinaus gab es virtuelle Programme und Hausaufgabenhilfen. Gerade die sozial benachteiligten Kinder sind leider nicht in den Genuss staatlicher Subventionen bei Laptops gekommen. Bis heute darf nur ein kleiner Teil der Kinder in die Arche kommen, damit wir die Abstände einhalten können – täglich 60 bis 70 Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 20 Jahren. In normalen Zeiten haben wir 350 Tagesbesucher. Das erhöht oft den Druck in den Familien, die Kinder sind angespannte und die Gewalt nimmt zu.
Wie wirkt sich das konkret aus?
Oft rufen mich spätabends noch Eltern an, weil völlig überlastete Kinder die Wohnungseinrichtung demolieren. Diese können sich nicht mehr mit ihren sozialen Kontakten treffen. Die dauernden Einschränkungen in den Schulen und Zeiten in der Quarantäne machen es nicht einfacher. Oft funktioniert bei unseren Kindern das Homeschooling nicht. Eine alleinerziehende Mutter mit drei oder vier Kindern ist damit völlig überfordert. Das hängt die Kinder noch mehr ab als vorher.
Sie sagten, dass die Hilfe nicht bei ihrer Klientel ankommt?
Im schulischen Bereich funktioniert das mit den Laptops oft nur dann gut, wenn es einen Förderverein gibt. Sonst ist der Lehrer oft auf sich allein gestellt. Wenn von 21 Schülern 18 verhaltensauffällig sind, muss er sowieso andere Maßstäbe ansetzen. Jetzt soll er sich noch darum kümmern, dass seine Schüler Laptops bekommen, sie einrichten, versichern und sie dann den Familien erklären. Das kann kein Lehrer schaffen. Besser funktioniert hat es an Schulen der Mittel- oder Oberschicht. Aber bei 90 Prozent der Arche-Kinder sind diese Geräte nie angekommen und werden es vermutlich auch nicht.
Unterscheidet sich die erste von der zweiten Corona-Welle?
Im Frühjahr haben sich die Kinder gefreut, dass die Schule ausfällt. Zudem war das Wetter gut. Dann waren alle glücklich, als die Schule wieder losging. Ein Lockdown in der kalten Jahreszeit ist etwas anderes. Das drückt die Stimmung. Wir sind jetzt seit neun Monaten in diesem Zustand. Teilweise leben Menschen zu sechst auf 70 Quadratmetern. Da ist doch klar, dass es irgendwann einmal knallt. Die Anspannung ist nicht immer sichtbar, aber sie ist groß. Solange abends noch jemand bei mir anruft und mir die Probleme schildert, passiert ja nichts. Aber wie viele Familien rufen nicht an?
Können Sie Ereignisse nennen, die das Ausmaß verdeutlichen?
In der Krise haben schon viele Kinder gesagt, dass sie sich umbringen möchten, wenn sie nicht bald wieder in die Schule oder in die Arche gehen können. Das alarmiert uns natürlich und wir gehen dem nach. Für die Kinder bricht mit diesen Einschränkungen eine Welt zusammen. Sie denken ja nicht perspektivisch, sondern nur an den heutigen Tag. Da wollen sie alles reinpacken. Wenn sie hören, dass sie erst übermorgen wieder kommen dürfen, ist das für sie so weit weg und moralisch nur schwer durchzuhalten..
Gibt es auch positive Aspekte?
Wir haben während des Lockdowns festgestellt, dass die Familien noch enger zusammengewachsen sind. Sie haben gemerkt, dass sie sich miteinander beschäftigen müssen, um die schwere Zeit zu überstehen. Einer unserer Besucher hat mit seiner Familie Pfandflaschen gesammelt und weggebracht, den Erlös hat er der Arche gegeben: 132 Euro! Die fünfköpfige Familie hatte ein Plakat gebastelt, auf dem stand: „Danke der Arche!“ Ich war völlig platt. Sie wollten sich so für unsere Arbeit revanchieren. Mir wurde klar, wie sehr die Familien mit uns verbunden sind. Das war nur eine von vielen Aktionen. Unsere Mitarbeiter bekommen auch oft Nachrichten, in denen sie als Helden bezeichnet werden. Nach mancher 14-Stunden-Schicht stärkt das ungemein. Momentan spüren wir eine unglaubliche Dankbarkeit bei unseren Familien.
Sie haben eben das Arbeitspensum der Mitarbeiter erwähnt. Wie gehen Sie damit um?
Ich muss natürlich meine Mitarbeiter im Blick haben und sie auch mal nach Hause oder in den Urlaub schicken. Die Arbeit zehrt an den Kräften. Man kann nicht immer nur geben. Die Mitarbeiter können ja aktuell ihre sozialen Kontakte selbst nicht pflegen. Ich bin wirklich erstaunt, wie viel Motivation und wie viel Kraft sie noch haben. Sie möchten sich voll und ganz in die Not der Menschen investieren.
Wann hatten Sie Ihren letzten freien Tag?
Ich habe im Sommer nach sieben Jahren zum ersten Mal fünf Tage Urlaub gemacht. Dadurch habe ich hier fünf Tage gefehlt. Freie Tage gibt es leider nicht oft. Ich weiß, dass die Menschen mich brauchen. Einerseits ist das ein gutes Gefühl. Andererseits wird es irgendwann auch wieder leichter und dann werde ich mich mal wieder eine Woche rausziehen.
Sie haben bezüglich des Jubiläums ein klares politisches Statement abgeben…
Ich kämpfe seit 25 Jahren gegen Kinderarmut und stelle fest, dass politisch und gesellschaftlich relativ wenig passiert ist. Seit 2001 hat sich die Armut bei Kindern verdreifacht, aber die Politik hat wenig daraus gelernt. Deswegen möchte ich anlässlich unseres 25-jährigen Bestehens der Kinderarmut den Krieg erklären. Der 24. November ist der Aktionstag gegen Kinderarmut und Ausgrenzung. Wir wollen diesen Tag nutzen, um das Thema ins Bewusstsein der Vereine und Institutionen zu bringen.
Was fordern Sie?
Es braucht dringend eine Grundsicherung für Kinder. Als Größenordnung schlagen wir 600 Euro pro Monat vor. Davon müssen 300 Euro in die Familien fließen, um die Situation der Kinder zu verbessern. Was bei Hartz-IV-Empfänger für das Essen angesetzt wird, reicht nicht, um sich gesund zu ernähren. Auch die übrigen materiellen Bedürfnisse der Familien können nicht gedeckt werden. Zweitens muss sich unser Bildungssystem verändern. Es garantiert keine Chancengleichheit. Bildung ist immer noch abhängig vom Einkommen der Eltern. Deswegen müssen die anderen 300 Euro in Lehrer, Sozialarbeiter und Schulen investiert werden. Vor allem in den Brennpunkten benötigen Kinder individuellere und effektivere Förderung. Darüber hinaus brauchen wir niedrigschwellige Angebote zum Kinderschutz. Ein Kind, das kein Geld auf dem Handy hat, kann zum Beispiel das Sorgentelefon nicht anrufen. Per WhatsApp ist das nicht erreichbar. Es kann nicht sein, dass der Datenschutz uns da einen Riegel vor die Tür schiebt. Zum dritten müssen wir ganz dringend die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Das könnte bedeuten, dass Eltern den Unterrichtsausfall einklagen können, weil Kinder ein Recht auf Bildung haben. Gerade in der aktuellen Zeit merken wir, wie sehr unsere Kinder abgehängt werden. Statt sich um Fachkräfte im Ausland zu bemühen, sollten wir unsere Kinder befähigen, einen guten Abschluss zu schaffen, damit sie selbst Fachkräfte werden können.
Sehen Sie in den Aussagen der Politiker nur Lippenbekenntnisse?
Bei den Wahlkämpfen steht Kinderarmut als Thema auf Wahlplakaten. Danach hört man relativ wenig davon. Das beschlossene Bildungs- und Teilhabepaket sichert pro Kind 150 Euro monatlich zu. Wenn man zehn Prozent davon für Nachhilfeunterricht ansetzt, wären das ungefähr 15 Euro im Monat. Außerschulische Nachhilfe kostet allerdings etwa 8,50 Euro pro Stunde. Das ist eher ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das größte Problem ist, dass die Kinder keine Lobby haben. Arme Kinder befinden sich am Rand der Gesellschaft, obwohl sie eigentlich in die Mitte gehören.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten für die Kinder. Welche wären das?
Der erste Wunsch wäre, es würde keine Kinderarmut mehr in Deutschland geben und die Arche könnte schließen. Der zweite: dass die Gesellschaft selbst ein besseres Bild unserer Kinder hat, sie wie Könige behandelt und ihnen ein besseres Zuhause bietet. Und als drittes wünsche ich mir natürlich, dass Corona verschwindet und alle Kinder wieder in die Arche kommen können.
Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die nächsten 25 Jahre?
Ich habe als Theologe gelernt: „Arbeite, als wenn das Gebet nichts nützt und bete, als wenn die Arbeit nichts nützt.“ Als Leiter der Arche habe ich gelernt: „Arbeite, als wenn die Politik nichts tut, und versuche andererseits die Politik so zu beeinflussen, dass deine Arbeit überflüssig wird.“ Ich möchte weiterhin die Stimme der Kinder in Deutschland sein und diese in die politischen Diskussionen und in die Öffentlichkeit einbringen. Wenn einer seine Stimme erhebt, dann werden vielleicht andere aufspringen und mitmachen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Von: Johannes Blöcher-Weil