pro: Ist der 3. Oktober für Sie persönlich ein Feiertag?
Markus Meckel: Das Datum ist es eher nicht – aber das Ereignis: Dass die deutsche Einheit möglich wurde, bezeichne ich als Glücksstunde der Deutschen im 20. Jahrhundert. Bis zu meinem 37. Lebensjahr habe ich nicht gedacht, dass ich jemals in einer Demokratie oder gar in einem geeinten deutschen Staat leben könnte. Und das mit der Akzeptanz unserer Nachbarn, heute sogar in gemeinsamen europäischen und transatlantischen Institutionen mit ihnen, obwohl wir ein knappes halbes Jahrhundert vorher Furchtbares über Europa gebracht haben.
Sie waren in der DDR Pfarrer. In Ihrem Buch „Zu wandeln die Zeiten“ schreiben Sie, Opposition war weniger eine feste Organisation als einfach ein Teil Ihres Lebens. Was bedeutet das?
Als Christ stand man automatisch in Distanz zum Staat. Allein deshalb, weil es zur Ideologie in der DDR und des Marxismus gehörte, atheistisch zu sein. Das bestimmte auch den Bildungsbetrieb. Jeder Schüler, der an Gott glaubte und zur Kirche ging, wurde in der Schule konfrontiert mit ideologischen Lehrinhalten, die als Wahrheit ausgegeben wurden und dem Glauben völlig entgegenstanden. Im Musikunterricht mussten wir kommunistische Lieder lernen oder auch solche, in denen der Glaube diskreditiert wurde. Wenn ich die nicht gelernt habe, bekam ich eben in Musik eine Vier. Wer zu seinem Glauben stand, erfuhr dadurch schon als Kind Ausgrenzung. So wuchs ich automatisch mit einer kritischen Grundhaltung zu diesem Herrschaftssystem und seinen Strukturen heran.
Im Oktober 1989 haben Sie die SDP, die erste sozialdemokratische Partei im Osten, mitinitiiert und -gegründet, zusammen mit Martin Gutzeit, ebenfalls Pfarrer. Sie betonen, dass Sie aus theologischen Gründen keine christliche Partei gründeten. Warum?
Zunächst war es uns wichtig, überhaupt eine Partei zu gründen. Vorher fand ja vieles Oppositionelle in der Kirche statt. Wir waren der Überzeugung, die Kirche kann nicht selbst die Organisation sein, die den politischen Prozess vorantreibt. Deshalb wollten wir keine politisierte Kirche in dem Sinne, dass sie selbst Akteur einer solchen Revolution wird. Mit einer „christlichen“ Partei, würde man den christlichen Glauben für die eigene politische Partei vereinnahmen. Konkrete Politik lässt sich nicht aus der Bibel ableiten. Innerhalb des demokratischen Spektrums kann ein Christ nach seinen politischen Überzeugungen in jeder Partei arbeiten.
Sie waren öfter auf Reisen, unter anderem in Rumänien und Ungarn, haben auch László Tőkés getroffen, der eine wichtige Rolle spielte beim Umsturz in Rumänien. Wie erging es den Kirchen in diesen anderen sozialistischen Ländern?
Sie standen oft noch viel stärker unter Druck als in der DDR. In Rumänien hing das unter anderem damit zusammen, dass das Regime versuchte, nationale Minderheiten – die lutherischen Siebenbürger Sachsen oder die katholischen und reformierten Ungarn – in ihren Existenzgrundlagen und ihrer Identität zurückzudrängen. Das wirkte sich stark auf ihr kirchliches Leben aus.
Warum wurde die Kirche in der DDR anders behandelt?
In der DDR haben die Sowjets die Kirchen schon während der Besatzungszeit nicht so stark eingeschränkt, weil sie die Bekennende Kirche im Dritten Reich als Widerstand gegen Hitler anerkannten und viele Kirchenführer nach 1945 aus der Bekennenden Kirche kamen. Die Kirchen wurden nicht enteignet. Sie konnten ihre eigenen Ausbildungsstätten wieder eröffnen und christlichen Unterricht machen. In anderen kommunistischen Ländern war das ganz anders. Wir hatten dazu noch den Vorteil, dass wir institutionell bis 1969 mit den westlichen Landeskirchen in der EKD vereint waren und auch darüber hinaus diese Ost-West-Beziehungen pflegen konnten. Wir bekamen auch finanzielle Hilfe von den westlichen Kirchen. Kirche war in dieser Zeit oft ein Raum nicht nur geistiger, sondern auch konkreter Freiheit.
Sie waren öfter auf Reisen, unter anderem in Rumänien und Ungarn, haben auch László Tőkés getroffen, der eine wichtige Rolle spielte beim Umsturz in Rumänien. Wie erging es den Kirchen in diesen anderen sozialistischen Ländern?
Sie standen oft noch viel stärker unter Druck als in der DDR. In Rumänien hing das unter anderem damit zusammen, dass das Regime versuchte, nationale Minderheiten – die lutherischen Siebenbürger Sachsen oder die katholischen und reformierten Ungarn – in ihren Existenzgrundlagen und ihrer Identität zurückzudrängen. Das wirkte sich stark auf ihr kirchliches Leben aus.
Warum wurde die Kirche in der DDR anders behandelt?
In der DDR haben die Sowjets die Kirchen schon während der Besatzungszeit nicht so stark eingeschränkt, weil sie die Bekennende Kirche im Dritten Reich als Widerstand gegen Hitler anerkannten und viele Kirchenführer nach 1945 aus der Bekennenden Kirche kamen. Die Kirchen wurden nicht enteignet. Sie konnten ihre eigenen Ausbildungsstätten wieder eröffnen und christlichen Unterricht machen. In anderen kommunistischen Ländern war das ganz anders. Wir hatten dazu noch den Vorteil, dass wir institutionell bis 1969 mit den westlichen Landeskirchen in der EKD vereint waren und auch darüber hinaus diese Ost-West-Beziehungen pflegen konnten. Wir bekamen auch finanzielle Hilfe von den westlichen Kirchen. Kirche war in dieser Zeit oft ein Raum nicht nur geistiger, sondern auch konkreter Freiheit.
„Die atheistische Erziehung in der DDR war sehr erfolgreich.“
Die Revolution lief in der DDR friedlich ab, obwohl das Regime für eine Eskalation gerüstet war. Wie bewerten Sie die Rolle der Kirche dabei?
Die Kirche spielte eine wichtige Rolle dabei, dass die Revolution gewaltlos blieb. Auch im Vorhinein leistete sie schon einen wesentlichen Beitrag für die Veränderung. Sie war der einzige gesellschaftliche Ort, an dem es eine offene Debatte gab, und Räumlichkeiten, in denen man sich treffen konnte. Deshalb gab es in vielen oppositionellen Gruppen einen hohen Anteil von Christen, die sehr offen mit Nichtchristen zusammenarbeiteten.
Die Kirchen in der DDR haben sich auch an dem internationalen ökumenischen konziliaren Prozess „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ beteiligt, den der Weltkirchenrat 1983 in Vancouver startete. Der führte dazu, dass wir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch einen ökumenischen Diskussionsprozess hatten, der die DDR-Wirklichkeit sehr kritisch beleuchtete, vor allem zu Fragen der Umwelt und des Friedens. Viele Inhalte, die in der ökumenischen Versammlung 1989 beschlossen worden waren, fanden sich dann im Herbst wieder in den Programmen der neuen demokratischen Bewegungen.
Trotzdem haben die Kirchen nach dem Ende der DDR immer mehr an Anziehungskraft verloren. Woran lag das?
Schon während der ganzen DDR-Zeit wurden die Bindungs- und Berührungspunkte der breiten Bevölkerung mit Kirche immer geringer. Insofern war die atheistische Erziehung in der DDR, die Entchristlichung der Gesellschaft, in hohem Maße erfolgreich – was sich auch heute noch sehr deutlich niederschlägt.
Dass die Kirchen gerade während der friedlichen Revolution voll waren, hatte also vor allem politische Gründe?
Die Menschen vertrauten der Kirche. Aber wem man vertraut, zu dem muss man ja nicht unbedingt gehören. Nach 1990 hatte die Kirche in dieser politischen Funktion nach der Überzeugung vieler ihren Dienst getan und wurde in einer Demokratie für diesen Zweck für DDR-Bürger nicht mehr gebraucht.
Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, dass wir nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit noch keine gemeinsame Erzählung gefunden haben über das, was damals geschah. Wie können wir dahin kommen?
Sie sollte entstehen, indem viele Menschen ihre Geschichten und ihre Perspektiven darstellen. Wenn über die Wiedervereinigung gesprochen wird, ist oft die Rede von den Menschen in friedlichen Demonstrationen, vom Mauerfall und davon, dass danach Helmut Kohl die Einheit brachte. In meinen Augen ist die Geschichte anders gelaufen: In einer friedlichen Revolution ist das kommunistische System hinweggefegt worden.
Am runden Tisch haben wir als Opposition friedlich in Verhandlungen mit dem SED-Regime die erste freie und demokratische Wahl 1990 vorbereitet. Und dann hatten wir eine frei gewählte Regierung, ein frei gewähltes Parlament, das die Verträge zur deutschen Einheit mit der Bundesrepublik und den Alliierten verhandelte. Dieser Weg war der aufrechte Gang der Ostdeutschen in die deutsche Einheit. Wenn die Ostdeutschen das selbst erkennen und sich als Akteur in diesem Prozess sehen würden, könnten sie viel stolzer darauf sein.
Ein halbes Jahr, nachdem Sie die SDP gegründet hatten, waren Sie als politischer Neuling und Quereinsteiger plötzlich Minister auf internationalem Parkett und mussten mit politischen Schwergewichten verhandeln. Wie war das für Sie?
Dieses Schicksal teilten wir in der DDR mit allen unseren Nachbarn im Osten. Václav Havel, der 1989 Präsident der Tschechoslowakei wurde, war kurz vorher aus dem Gefängnis gekommen – er war Schriftsteller und Dichter. Jiri Dienstbier, sein Außenminister, hatte als Heizer gearbeitet. Dass ich dann plötzlich mit den Großen dieser Welt an einem Tisch saß und da nicht nur Mäuschen spielte, sondern auch versuchte, eigene Positionen einzubringen, das forderte Selbstbewusstsein. Aber es war auch eine ständige Anspannung.
Die Revolution lief in der DDR friedlich ab, obwohl das Regime für eine Eskalation gerüstet war. Wie bewerten Sie die Rolle der Kirche dabei?
Die Kirche spielte eine wichtige Rolle dabei, dass die Revolution gewaltlos blieb. Auch im Vorhinein leistete sie schon einen wesentlichen Beitrag für die Veränderung. Sie war der einzige gesellschaftliche Ort, an dem es eine offene Debatte gab, und Räumlichkeiten, in denen man sich treffen konnte. Deshalb gab es in vielen oppositionellen Gruppen einen hohen Anteil von Christen, die sehr offen mit Nichtchristen zusammenarbeiteten.
Die Kirchen in der DDR haben sich auch an dem internationalen ökumenischen konziliaren Prozess „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ beteiligt, den der Weltkirchenrat 1983 in Vancouver startete. Der führte dazu, dass wir in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch einen ökumenischen Diskussionsprozess hatten, der die DDR-Wirklichkeit sehr kritisch beleuchtete, vor allem zu Fragen der Umwelt und des Friedens. Viele Inhalte, die in der ökumenischen Versammlung 1989 beschlossen worden waren, fanden sich dann im Herbst wieder in den Programmen der neuen demokratischen Bewegungen.
Trotzdem haben die Kirchen nach dem Ende der DDR immer mehr an Anziehungskraft verloren. Woran lag das?
Schon während der ganzen DDR-Zeit wurden die Bindungs- und Berührungspunkte der breiten Bevölkerung mit Kirche immer geringer. Insofern war die atheistische Erziehung in der DDR, die Entchristlichung der Gesellschaft, in hohem Maße erfolgreich – was sich auch heute noch sehr deutlich niederschlägt.
Dass die Kirchen gerade während der friedlichen Revolution voll waren, hatte also vor allem politische Gründe?
Die Menschen vertrauten der Kirche. Aber wem man vertraut, zu dem muss man ja nicht unbedingt gehören. Nach 1990 hatte die Kirche in dieser politischen Funktion nach der Überzeugung vieler ihren Dienst getan und wurde in einer Demokratie für diesen Zweck für DDR-Bürger nicht mehr gebraucht.
Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, dass wir nach drei Jahrzehnten deutscher Einheit noch keine gemeinsame Erzählung gefunden haben über das, was damals geschah. Wie können wir dahin kommen?
Sie sollte entstehen, indem viele Menschen ihre Geschichten und ihre Perspektiven darstellen. Wenn über die Wiedervereinigung gesprochen wird, ist oft die Rede von den Menschen in friedlichen Demonstrationen, vom Mauerfall und davon, dass danach Helmut Kohl die Einheit brachte. In meinen Augen ist die Geschichte anders gelaufen: In einer friedlichen Revolution ist das kommunistische System hinweggefegt worden.
Am runden Tisch haben wir als Opposition friedlich in Verhandlungen mit dem SED-Regime die erste freie und demokratische Wahl 1990 vorbereitet. Und dann hatten wir eine frei gewählte Regierung, ein frei gewähltes Parlament, das die Verträge zur deutschen Einheit mit der Bundesrepublik und den Alliierten verhandelte. Dieser Weg war der aufrechte Gang der Ostdeutschen in die deutsche Einheit. Wenn die Ostdeutschen das selbst erkennen und sich als Akteur in diesem Prozess sehen würden, könnten sie viel stolzer darauf sein.
Ein halbes Jahr, nachdem Sie die SDP gegründet hatten, waren Sie als politischer Neuling und Quereinsteiger plötzlich Minister auf internationalem Parkett und mussten mit politischen Schwergewichten verhandeln. Wie war das für Sie?
Dieses Schicksal teilten wir in der DDR mit allen unseren Nachbarn im Osten. Václav Havel, der 1989 Präsident der Tschechoslowakei wurde, war kurz vorher aus dem Gefängnis gekommen – er war Schriftsteller und Dichter. Jiri Dienstbier, sein Außenminister, hatte als Heizer gearbeitet. Dass ich dann plötzlich mit den Großen dieser Welt an einem Tisch saß und da nicht nur Mäuschen spielte, sondern auch versuchte, eigene Positionen einzubringen, das forderte Selbstbewusstsein. Aber es war auch eine ständige Anspannung.
Wie haben Sie Kanzler Kohl und Ihren Amtskollegen, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, erlebt?
Helmut Kohl zeigte unserer Regierung gegenüber eine deutliche Arroganz. Mir hat er nur einmal die Hand gegeben, als ich ihm begegnete, weil ich zufälligerweise mit Willy Brandt zusammenstand. Das war bei Hans-Dietrich Genscher völlig anders. Unmittelbar nach meiner Ernennung lud er mich zu sich nach Hause ein und wir sprachen ausführlich über die aktuelle Sachlage. Bis zu seinem Lebensende hatten wir ein Verhältnis von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung. In der konkreten Situation, im Laufe des Juni 1990 war er allerdings verärgert, weil ich auch Forderungen stellte, die er nicht für klug hielt.
Andererseits unterstützte er im Hintergrund mein intensives Eintreten für die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Wir widersprachen auch der Formulierung von Helmut Kohl, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie sei der „Preis der deutschen Einheit“. Nach unserer Überzeugung war diese Grenze das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, das wir schnell und bedingungslos anerkennen mussten. Das waren wir den Polen schuldig – und es würde die Vertrauensbasis für das geeinte Deutschland erhöhen.
In den Köpfen der Menschen hält sich vor allem im Osten ein Bild, dass die Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen benachteiligt seien. Wie bewerten Sie das heute?
Das sollten wir sehr ernst nehmen. Die Gründe dafür sind komplex, einiges hätte man anders machen können, anderes nicht. In jedem Fall war klar, dass ein solcher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationsprozess nicht leicht ist und viele Verlierer mit sich bringt. Gewiss hätte im Privatisierungsprozess der Treuhand manches anders laufen können. Insgesamt kann man vielleicht ein Defizit an Anerkennung ausmachen, etwa wenn man über die Einheit spricht und dabei den Westen zum Akteur und den Osten zum Objekt macht. Hier müssen wir, auch die Forschung, genauer hinschauen. Je offener wir über die Probleme sprechen, desto mehr werden die Menschen im Osten ein selbstbewusster Teil dieser Gesellschaft.
Wie haben Sie Kanzler Kohl und Ihren Amtskollegen, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, erlebt?
Helmut Kohl zeigte unserer Regierung gegenüber eine deutliche Arroganz. Mir hat er nur einmal die Hand gegeben, als ich ihm begegnete, weil ich zufälligerweise mit Willy Brandt zusammenstand. Das war bei Hans-Dietrich Genscher völlig anders. Unmittelbar nach meiner Ernennung lud er mich zu sich nach Hause ein und wir sprachen ausführlich über die aktuelle Sachlage. Bis zu seinem Lebensende hatten wir ein Verhältnis von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung. In der konkreten Situation, im Laufe des Juni 1990 war er allerdings verärgert, weil ich auch Forderungen stellte, die er nicht für klug hielt.
Andererseits unterstützte er im Hintergrund mein intensives Eintreten für die Anerkennung der polnischen Westgrenze. Wir widersprachen auch der Formulierung von Helmut Kohl, die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie sei der „Preis der deutschen Einheit“. Nach unserer Überzeugung war diese Grenze das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, das wir schnell und bedingungslos anerkennen mussten. Das waren wir den Polen schuldig – und es würde die Vertrauensbasis für das geeinte Deutschland erhöhen.
In den Köpfen der Menschen hält sich vor allem im Osten ein Bild, dass die Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen benachteiligt seien. Wie bewerten Sie das heute?
Das sollten wir sehr ernst nehmen. Die Gründe dafür sind komplex, einiges hätte man anders machen können, anderes nicht. In jedem Fall war klar, dass ein solcher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationsprozess nicht leicht ist und viele Verlierer mit sich bringt. Gewiss hätte im Privatisierungsprozess der Treuhand manches anders laufen können. Insgesamt kann man vielleicht ein Defizit an Anerkennung ausmachen, etwa wenn man über die Einheit spricht und dabei den Westen zum Akteur und den Osten zum Objekt macht. Hier müssen wir, auch die Forschung, genauer hinschauen. Je offener wir über die Probleme sprechen, desto mehr werden die Menschen im Osten ein selbstbewusster Teil dieser Gesellschaft.
„Es hat sich danach noch nicht ausreichend diese Grundhaltung ausgebildet, dass man die politischen Institutionen als Teil der eigenen Lebenswirklichkeit wahrnimmt.“
Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 haben vor allem in Ostdeutschland Menschen ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System und den Medien zum Ausdruck gebracht. Auch der pauschale Vorwurf, die Ostdeutschen hätten die Demokratie noch nicht verstanden, war zu hören. Ist da was dran?
Hier teilen wir mit anderen postkommunistischen Ländern große Defizite in der Anerkennung der demokratischen Institutionen. Aber eine Grundskepsis gegenüber Parteien hat sich aus der DDR-Erfahrung sicher bei vielen durchgezogen: Der Staat, das waren immer die Kommunisten, und dem standen viele grundsätzlich skeptisch gegenüber. Es hat sich danach noch nicht ausreichend diese Grundhaltung ausgebildet, dass man die politischen Institutionen als Teil der eigenen Lebenswirklichkeit wahrnimmt, an denen man durch Wahlen mitwirkt; die Haltung, dass der Einzelne Gesellschaft verantwortlich mitgestaltet. Es gehört vieles an politischer Bildung dazu, Akzeptanz für die Demokratie zu stärken. Die Politik muss die Menschen mitnehmen, sich erklären.
Wenn Sie jetzt, nach 30 Jahren Wiedervereinigung, auf Deutschland schauen, wie geht es Ihnen damit?
Wir können wirklich froh sein, dass dies alles so friedlich vonstatten gegangen ist. Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann haben wir als Deutsche ja doch großes Glück gehabt. Es ist ein Geschenk, dass die deutsche Einheit gelungen ist, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir uns unter einem Grundgesetz vereinigt haben, das auf zentralen Grundsätzen ruht, die wir auch theologisch als Christen akzeptieren können; dass wir hier eine Basis haben für unser kirchliches Leben in dieser Gesellschaft, dass wir sie als Christen mitverantworten können, dass uns der Raum eingeräumt wird, unsere Botschaft in die Öffentlichkeit zu geben und uns auch international mit anderen zu verbinden, die auch aus diesem Glauben heraus leben. Dafür bin ich zutiefst dankbar.
Vielen Dank für das Gespräch!
Im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 haben vor allem in Ostdeutschland Menschen ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System und den Medien zum Ausdruck gebracht. Auch der pauschale Vorwurf, die Ostdeutschen hätten die Demokratie noch nicht verstanden, war zu hören. Ist da was dran?
Hier teilen wir mit anderen postkommunistischen Ländern große Defizite in der Anerkennung der demokratischen Institutionen. Aber eine Grundskepsis gegenüber Parteien hat sich aus der DDR-Erfahrung sicher bei vielen durchgezogen: Der Staat, das waren immer die Kommunisten, und dem standen viele grundsätzlich skeptisch gegenüber. Es hat sich danach noch nicht ausreichend diese Grundhaltung ausgebildet, dass man die politischen Institutionen als Teil der eigenen Lebenswirklichkeit wahrnimmt, an denen man durch Wahlen mitwirkt; die Haltung, dass der Einzelne Gesellschaft verantwortlich mitgestaltet. Es gehört vieles an politischer Bildung dazu, Akzeptanz für die Demokratie zu stärken. Die Politik muss die Menschen mitnehmen, sich erklären.
Wenn Sie jetzt, nach 30 Jahren Wiedervereinigung, auf Deutschland schauen, wie geht es Ihnen damit?
Wir können wirklich froh sein, dass dies alles so friedlich vonstatten gegangen ist. Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann haben wir als Deutsche ja doch großes Glück gehabt. Es ist ein Geschenk, dass die deutsche Einheit gelungen ist, dass wir in einer Demokratie leben, dass wir uns unter einem Grundgesetz vereinigt haben, das auf zentralen Grundsätzen ruht, die wir auch theologisch als Christen akzeptieren können; dass wir hier eine Basis haben für unser kirchliches Leben in dieser Gesellschaft, dass wir sie als Christen mitverantworten können, dass uns der Raum eingeräumt wird, unsere Botschaft in die Öffentlichkeit zu geben und uns auch international mit anderen zu verbinden, die auch aus diesem Glauben heraus leben. Dafür bin ich zutiefst dankbar.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Jonathan Steinert
Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2020 des Christlichen Medienmagazins pro. Sie können das Heft kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41 / 5 66 77 00.