Die Vorsitzende der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, hat die Corona-Pandemie als „einen Brandbeschleuniger“ für Hunger und Armut bezeichnet. Thieme warnte am Montag in Berlin bei der Vorstellung des Welthunger-Index 2020 vor Rückschritten im Kampf gegen den Hunger weltweit. „Wenn wir bei der Hungerbekämpfung weiter so machen wie bisher, werden es 37 Länder bis 2030 nicht schaffen, ein niedriges Hungerniveau zu erreichen“, sagte Thieme. Prognosen deuteten auf eine starke Zunahme von Armut und Hunger hin. Die Lage der Menschen werde zudem durch den Klimawandel verschlimmert. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) rechnet damit, dass sich die Zahl der Menschen, die von einer akuten Ernährungskrise betroffen sind, bis Ende 2020 sogar verdoppeln könnte.
Derzeit rangiert das weltweiter Hungerniveau auf der 100-Punkte Skala mit 18,2 Punkten bei „mäßig“ (10 bis 19,9 Punkte). Im Jahr 2000 war das Hungerniveau mit einem Wert von 28,2 noch als „ernst“ (20,0 bis 34,9 Punkte) eingestuft worden. Bei Punktwerten bis 9,9 spricht die Skala von einem „niedrigen“ Wert, bei Punktwerten zwischen 35 und 49,9 bezeichnet die Skala den Hunger als „sehr ernst“, ab 50 Punkten gilt der Hunger als „gravierend“.
690 Millionen Menschen leiden an chronischem Hunger
2015 hätten sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu Zielen der nachhaltigen Entwicklung verpflichtet, unter anderem das Ziel, „den Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern“. Nach Angaben der Welthungerhilfe steigt die Zahl unterernährter Menschen seit 2015 wieder an. Im Jahr 2019, noch vor den jüngsten Krisen, litten dem aktuellen Welthunger-Index zufolge fast 690 Millionen Menschen an chronischem Hunger und 135 Millionen Menschen waren von einer akuten Ernährungskrise betroffen.
Laut aktuellem Welthunger-Index, der die Ernährungslage in 107 Ländern berechnet, weisen derzeit 14 Länder höhere Hungerwerte auf als noch 2012. Dazu gehören unter anderem Kenia, Madagaskar, Venezuela und Mosambik. In den Index, der seit 2006 jährlich vorgestellt wird, fließen unter anderem Daten zur Kindersterblichkeit, Unterernährung und Wachstumsverzögerungen bei Kindern unter fünf Jahren ein.
Kampf gegen Hunger mit Friedensnobelpreis gewürdigt
Am vergangen Freitag hatte das Nobelpreiskomitee dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen für seinen Einsatz gegen den Hunger in der Welt den Friedensnobelpreis zuerkannt. Das WFP ist die weltgrößte humanitäre Organisation und versorgt etwa 100 Millionen Menschen mit Nahrung. Das 1961 gegründete Welternährungsprogramm hat seinen Sitz in Rom. Die Arbeit des WFP finanziert sich durch freiwillige Beiträge der UN-Mitgliedsländer. Deutschland ist nach den USA zweitwichtigster Geber.
Die Welthungerhilfe hat ausdrücklich begrüßt, dass mit dem Friedensnobelpreis für das WFP der Kampf gegen den Hunger als zentrale Herausforderung der Weltgemeinschaft anerkannt werde. „Der Preis wirft ein Schlaglicht auf eines der drängendsten Probleme der Welt, die wir lösen müssen: den weltweiten Hunger beseitigen“, erklärte die Organisation auf Anfrage. Der Nobelpreis sei eine „Anerkennung für alle Organisationen aber insbesondere die humanitären Helfer“, die täglich unter schwierigen Bedingungen Menschen in Not unterstützten und dabei auch ihr Leben riskierten, wie etwa in Syrien oder im Jemen. Die Auszeichnung komme zur richtigen Zeit, denn durch Corona werde die Zahl der Hungernden weiter steigen.
Die Welthungerhilfe arbeitet eigenen Angaben zufolge seit mehr als 30 Jahren eng mit dem WFP zusammen. In vielen Ländern verteilt die Welthungerhilfe die Nahrungsmittel, die das WFP bereitstellt. Gemeinsam mit dem WFP betreibt sie zudem Projekte, um die lokalen Wirtschaften in verschiedenen Ländern anzukurbeln, etwa indem Bargeld oder Gutscheine an Bedürftige verteilt werden. Thieme sieht in der Verleihung des Friedensnobelpreises an das WFP einen Ansporn, für die Abschaffung des Hungers zu kämpfen und den betroffenen Menschen eine Stimme zu geben.
„Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“
Den Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, David Beasley, hat der Vorstandsvorsitzende von Tearfund Deutschland, Martin Knispel, eigenen Angaben zufolge 2019 in Washington bei Gesprächen kennengelernt. Beasley habe in der Gesprächsrunde gestanden, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so viel geweint habe über das Elend von Kindern, wie seitdem er bei der UN arbeite. Knispel: „Beasley selbst ist überzeugter Christ und auch deshalb freut es mich, dass sein Werk den Friendesnobelpreis erhalten hat.“
Knispel sieht in der Bekämpfung von Armut einen Ansporn gerade für Christen. „Als Christen haben wir eine unaufgebbare Verantwortung, uns für das Leben eines jeden Menschen in Würde einzusetzen“, erklärte Knispel am Montag auf Anfrage. Jeder Mensch sei ein Gedanke Gottes, deshalb vom Schöpfer gewollt und geliebt. Hunger, Armut, Vertreibung, Flutkatastrophen und Kriege dürften Christen deshalb nicht gleichgültig lassen.
Es müsse Christen antreiben, als Einzelne und als Kirchen, die Stimme zu erheben gegen Wassermangel, Hunger, Krieg und Unfrieden sowie die Umweltzerstörung. „Am Ende ist es ganz einfach. Jesus sagt: ‚Was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.‘ Brot geteilt, Wasser ausgeschenkt, ein Bett für die Nacht bereitet. Mehr nicht, weniger aber auch nicht.“
Füllkrug-Weitzel: „Globales Ernährungssystem muss gerecht werden“
Auch die Präsidentin von Brot für die Welt, Cornelia Füllkrug-Weitzel, sieht in der Nobelpreisverleihung an das WFP ein wichtiges Zeichen. „Wir dürfen der Zunahme des Hungers in der Welt nicht tatenlos zusehen“, erklärte sie am Freitag nach Bekanntgabe des Nobelpreises. Die Mitarbeiter des WFP leisteten mit ihrer Arbeit zudem „einen unverzichtbaren Beitrag für die Deeskalation in Konflikten und zur Fluchtursachenbekämpfung“.
Die Nothilfe des Welternährungsprogramms sei ein Baustein im Kampf gegen den Hunger, reiche aber nicht aus. „Das gesamte globale Ernährungssystem muss in Zukunft gerecht, agrarökologisch und demokratisch ausgerichtet werden“, forderte Füllkrug-Weitzel. Nur so könne das nachhaltige Entwicklungsziel, den Hunger bis zum Jahre 2030 zu beenden, erreicht werden.
Von: Norbert Schäfer