Am Samstag, dem 3. Oktober 2020, wird es die DDR seit 30 Jahren nicht mehr geben, stattdessen ein wiedervereinigtes Deutschland. Jubiläen wie diese sind ein willkommener Anlass, um zurückzuschauen, sich zu erinnern und auch eine Bilanz zu ziehen. Verschiedene Umfragen, die in diesen Tagen und Wochen dazu veröffentlicht werden, lesen sich teilweise wie ein Zeugnis größerer Desillusion.
Zwei von drei Westdeutschen und mehr als drei von vier Ostdeutschen sind der Meinung, dass die beiden Teile des Landes noch nicht zusammengewachsen sind. Das ergab eine Studie, die infratest dimap für den NDR durchführte. Diese Werte sind im Vergleich zum vorigen Jahr gestiegen – die Wahrnehmung „Wir sind ein Volk“ hat sich offenbar weiter eingetrübt. Ähnliche Zahlen ermittelte auch eine YouGov-Umfrage: Derzufolge finden knapp zwei Drittel der Deutschen, dass die Lebensverhältnisse noch zu unterschiedlich sind, um von einem abgeschlossenen Zusammenwachsen zu sprechen.
Eine detaillierte Erhebung der Bertelsmann-Stiftung stellte fest, dass im Osten eine andere Erzählung vom Einheitsprozess vorherrscht als im Westen: Die einen sehen vor allem die Leistung der DDR-Bürger mit den Demonstrationen und der Friedlichen Revolution, die schließlich zur „Wende“ führte; die anderen sehen den Zusammenbruch der DDR zuerst darin, dass der sozialistische Staat an seinen „wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten“ scheiterte und schließlich das überlegenere System auch im Osten Einzug gehalten habe. Und so finden 71 Prozent der Ostdeutschen, ihnen gebühre mehr Anerkennung für ihren Beitrag zur Wiedervereinigung. Und auch etwas mehr als die Hälfte der Westdeutschen meint, dass ihnen mehr Dankbarkeit zustehe für ihre vor allem finanzielle Leistung bei der Deutschen Einheit.
Ein immenses Räderwerk brachte die Einheit zum Rollen
Immerhin werden diese Unterschiede nicht mehr als zentrale Trennlinie in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen, heißt es in der Bertelsmann-Studie. Und: Je jünger die Menschen, desto weniger spielen Teilung und Wiedervereinigung für sie eine Rolle.
Es ist nun mal so wie in einer Beziehung: Es gehören zwei dazu – genaugenommen gehören hinsichtlich der Deutschen Einheit sogar noch sehr viel mehr dazu, ist sie doch auch ein Ergebnis weltpolitischer Prozesse. Sehr vielen Akteuren, namhaften und unbekannten, gebührt Anerkennung und Dank für ihren ganz eigenen Beitrag zur Wiedervereinigung. Das Jubiläum könnte ein Anlass sein, bewusst einmal aus der Perspektive eines anderen auf die Einheit und den Weg dorthin zu schauen. Das würde sicher helfen, den gefühlten Mangel an Wertschätzung etwas auszugleichen und vielleicht auch das eine oder andere noch herrschende Vorurteil abzubauen.
Es könnte sichtbarer werden, wie unzählige große und kleine Bausteine – Entscheidungen, Entwicklungen, Stimmungen oder Zeitfenster – letztlich die Einheit ermöglichten. Und gerade das – dieses immense Räderwerk, das zur Wiedervereinigung und zu einer völligen Neuordnung ganz Europas führte – kann umso dankbarer dafür machen, dass es überhaupt und noch dazu auf friedliche Weise dazu gekommen ist. Und am Ende könnte auch die Perspektive lohnen, dass die Deutschen eben ein bunter Haufen sind, die Städter anders als die auf dem Land, die im Gebirge anders als die am Meer, die im Osten ebenso anders wie die im Westen, Süden oder Norden. Als gebürtiger Erzgebirgler kann ich da nur sagen: Glückauf! Mein Kollege aus Mittelhessen übrigens auch.