Kinder nach der Geburt „abtreiben“ – für eine Reihe von Medizinern ist das eine Option. Für eine Studie wurden 117 mit Spätabtreibungen befasste Ärzte und Fachpersonal von medizinischen Zentren in der belgischen Region Flandern um ihre Einschätzung zu dem Thema gebeten. 95 Prozent von ihnen hielten die Abtreibung eines lebensfähigen Embryos für akzeptabel, wenn sein Gesundheitszustand bedenklich, aber nicht tödlich ist. Jeder fünfte Befragte fand, dass das auch bei einem gesunden Embryo möglich sein sollte, wenn die Mutter psychische Probleme hat. 13 Prozent der Befragten akzeptierten auch soziale und ökonomische Probleme der Mutter als Grund für die Abtreibung eines gesunden Embryos. Und sollte das Kind mit einer ernsthaften Krankheit zur Welt kommen, hielten es neun von zehn Studienteilnehmer für akzeptabel, das Leben des Kindes nach der Geburt mit Medikamenten zu beenden.
Die Studie, die Anfang August in der Fachzeitschrift Acta Obstetricia et Genecologica Scandinavica erschien, bescheinigt den Befragten eine „hohe Toleranz“ gegenüber Spätabtreibungen. Die Anzahl derer, die diese Haltung in der Studie vertreten, ist aufs Ganze gesehen begrenzt – von den Angefragten haben letztlich 79 Prozent geantwortet. Auch geografisch bezieht sich die Erhebung nur auf ein überschaubares Gebiet. Trotzdem sind die Befunde erschreckend. Die nackten Zahlen lassen kaum etwas davon erkennen, was wohl die meisten von Medizinern erwarten: Leben medizinisch zu ermöglichen und möglichst zu erhalten. Einem neuen Leben gar nicht erst eine Chance zu geben, gar seine Auslöschung zu erwägen, weil es möglicherweise gesundheitlich beeinträchtigt ist – das zeugt weniger von Respekt vor dem Leben als von Bewertung und Selektion.
Unvollkommenes Leben
In gewisser Weise ist die Frage um nachgeburtliche „Abtreibung“ ebenso wie die nach Sterbehilfe ein Gegenpol zu der Frage, ob Leben um jeden Preis geschützt werden muss, wie es im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie diskutiert wurde. Können wir als Gesellschaft akzeptieren, dass menschliches Leben unvollkommen, eingeschränkt und gefährdet sein darf?
Dass es darauf keine pauschalen und einfachen Antworten gibt, zeigt eine erschütternde Nachricht aus Brasilien, die diese Woche um die Welt ging: Ein zehnjähriges Mädchen war schwanger geworden, nachdem sein Onkel es vergewaltigt hatte. Das Gesetz erlaubt in so einem Fall die Abtreibung des Fötus, ein Gericht bestätigte das. Jedoch waren persönliche Daten des Mädchens ins Internet gelangt mit der Folge, dass Abtreibungsgegner vor dem Krankenhaus protestierten, in dem die Schwangerschaft abgebrochen werden sollte.
Dieser Fall ist eine einzige große Katastrophe und man weiß gar nicht, was schlimmer sein mag für Leib und Seele des Kindes: der Missbrauch, die öffentlichen Anfeindungen, die Instrumentalisierung des Falles durch Aktivisten, die Abtreibung mit allen körperlichen und psychischen Folgen? Dem Mädchen ist von Herzen ein Mensch zu wünschen, der es fest in den Arm nimmt, an sich drückt und sagt: „Ich liebe dich. Bei mir bist du sicher.“