Die Evangelikalen in den USA sind ein Thema, das Journalisten in Deutschland nicht aufhört zu interessieren. Obwohl ja nun auch außerhalb der frommen Szene hinlänglich bekannt sein dürfte, dass viele von ihnen politisch konservativ ticken, Donald Trump unterstützen, gegen Abtreibung sind und die Evolutionstheorie ablehnen – zumindest ganz grob gesagt. Denn was geflissentlich unter den Tisch fällt, ist, dass sich „die“ Evangelikalen durchaus auch unterscheiden. Zur National Association of Evangelicals, dem US-Zweig der Evangelischen Allianz, gehören zum Beispiel Evangelikale aus 40 Denominationen – und damit sind noch längst nicht alle erfasst. Was bei der schieren Anzahl Evangelikaler nicht verwundert: Wie die ZDF-Doku „Bibeltreue Supermacht. Evangelikale in den USA“ feststellt, sind sie mit rund 60 Millionen Anhängern die größte Gruppe der amerikanischen Christen.
Also auch wenn durchaus einiges über sie bekannt ist, macht sich mit besagter Doku – einer französischen Produktion, die am Dienstag das erste Mal in der deutschen Fassung lief – wieder einmal ein journalistischer Beitrag daran, zu erklären, wie „die“ Evangelikalen in den USA ticken. Der Beginn, eine Art Intro, ist so plakativ und verallgemeinernd, dass man gespannt ist, was die verbleibenden 40 Minuten aus der Klischeekiste auspacken. „Die USA: Offiziell sind hier Staat und Kirche getrennt und doch ist Religion überall“, sagt eine Stimme. Der Beweis: Menschen mit Kreuz-Kettenanhängern und -Tatoos, Bibeln in Hotelzimmern, der Schriftzug „In God we trust“ auf Banknoten, christliche Musik aus dem Autoradio, ein Gottesdienst im Fernsehen und Politiker, die den USA Gottes Segen wünschen. Was genau die Präsenz von Religion mit der Trennung von Staat und Kirche zu tun hat oder gar mit den Evangelikalen, um die es in dem Beitrag gehen soll – das zu ergründen, überlassen die Journalisten dem Publikum.
Ganz schön fromm
Alsdann versucht die Doku an mehreren Beispielen zu zeigen, wie Evangelikale denken und was sie glauben. Zuerst besuchen die Journalisten das Creation Festival, das größte christliche Festival des Landes, wie es im Beitrag heißt, mit rund 60.000 Besuchern – vor allem Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Es gibt christliche Musik, Taufen, Anti-Abtreibungs-Kampagnen und viele Spenden – das Festival ist auch ein einträgliches Geschäft, macht die Doku deutlich. Weiterhin kommt im Film eine fromme Familie zu Wort, deren Kinder auf eine baptistische Schule gehen. Die Teenies haben nur christliche Bücher und Bibeln in mehreren Sprachen im Schrank. Im Auto läuft christliche Musik, in der Schule gibt es ein Fach, in dem sie die Bibel auswendig lernen.
Ein Besuch in einem Schöpfungsmuseum steht ebenso an wie in einem Themenpark zur Arche Noah. Stichwort kreationistisches Weltbild und Wissenschaftsfeindlichkeit. Der Zuschauer lernt christliche Biker kennen, die mit ihren Motorrädern durch die Stadt rollen und mit den Geschäfteinhabern beten. Und einen Pastor, der mit einem Polizisten auf Streife fährt, um Verkehrs- und Drogensündern den Weg zu Jesus zu weisen, während der Cop den Fall dokumentiert.
Anders als die ersten Minuten vermuten lassen, beobachtet die Doku die Menschen weitestgehend sachlich, lässt sie sprechen und ihre Überzeugungen kundtun. Natürlich legt sie den Fokus auf die Punkte, die man klischeehaft mit Evangelikalen verbindet. Aber die Protagonisten wirken in dem, was sie sagen und wie sie gezeigt werden, sehr authentisch – und bestätigen damit auch das eine oder andere Bild. Das ist interessant, weil es teilweise wirklich schräg ist. Der Pastor etwa, der sich den Colt in den Gürtel steckt, als er sein Büro verlässt. Er wolle seine Herde schützen – spirituell und auch physisch, das sei sein Job als Pastor. Oder die promovierte Paläontologin, die als Führerin im Creation Museum arbeitet, erklärt, dass alles Leid auf der Welt vom Sündenfall herrührt, und sagt: „Ich bin schwanger, damit ich den Fluch des Schmerzes verstehen lerne“; und darauf angesprochen, ob sie sich bestraft fühle: „Wir alle fühlen uns bestraft für die Sünde, die unter unserer Haut sitzt.“ Und natürlich die Jugendlichen, die lieber ihre Eltern mit zu einem Date nehmen, als in Versuchung zu geraten, vor der Ehe Sex zu haben.
Schießtrainig für den Kreuzzug
Christ sein bedeute vor allem, richtig zu leben und andere davon zu überzeugen, dass sie in die Hölle kommen, wenn sie nicht an Jesus glauben. Das bringen fast alle Protagonisten so oder so ähnlich zum Ausdruck. Kein Wort von Sündenvergebung, Gnade, Erlösung, Evangelium. Jesus oder Hölle, Kirche oder Welt, Bibel oder Wissenschaft – Grautöne scheint es in ihrer frommen Weltsicht nicht zu geben.
Besonders krass wird es zum Ende des Beitrags, als die Journalisten eine paramilitärische Miliz im Bundesstaat Georgia besuchen. Fromme Leute mit zivilen Berufen treffen sich einmal im Monat an einem geheimen Ort, um mit halbautomatischen Waffen Schießübungen zu machen und Häuserkampf zu trainieren. Gott, Nation, Familie. Oder wahlweise Barbecue, das ist ihr Credo. Einer, der sich als ordinierter Pastor ausgibt (was in dem Fall nicht zu vergleichen ist mit einer Pfarrerordination in einer Landeskirche nach mehrjährigem Studium), präsentiert seine Feuerwaffe: Modell Kreuzfahrer, mit eingraviertem Kreuz. An dem Hebel zum automatischen Feuer sind drei Einstellungen markiert: Friede, Krieg, Gottes Wille. Muslime, Kommunisten, Atheisten – die Bibel sage, am Ende der Zeiten werde es schlimmer, bevor es besser werde, darauf wollen sich die Männer vorbereiten. Und lassen sich offenbar bereitwillig dabei filmen.
Die Doku weiß nicht, was sie will
In welcher Bibel lesen sie?
Diese Frage stellt die Doku leider nicht. Sie zeigt, aber sie ordnet nicht ein, verzichtet auf Erklärungen. Das sind in dem Beitrag alles „die“ Evangelikalen – die Jugendlichen, die auf einem Musikfestival Lobpreislieder singen; die wissenschaftsskeptischen Kreationisten; der Pastor mit dem Cop auf Streife; die Paramilitärs mit dem Kreuz auf dem Gewehr. Diese vielen Beispiele alle zu vermischen und am Ende zu resümieren, dass das Spannungsfeld von Religion und Staat zunehmend von Fanatikern bestimmt wird, das geht nicht auf. Sicher gibt es Schnittmengen in ihren Weltbildern. Aber Milizen lesen offenbar etwas anderes aus der Bibel heraus als junge Menschen, die sich aus Glaubensfreude taufen lassen. Das scheint den Journalisten nicht aufzufallen.
Manches erschiene auch noch einmal in einem anderen Licht, wenn man berücksichtigte, dass die USA von ihrer Geschichte her generell eine andere Beziehung zur Religion und zur Bibel haben als das etwa in Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Religiöse, christliche Praxis ist in der Alltagskultur noch stärker verwurzelt. Vor dem Hintergrund ergibt es auch Sinn, dass im Film der Veranstalter eines Atheisten-Treffs sagt: Wenn jemand Atheist wird, ist das wie ein Verrat an der Kultur, ein Stigma. Im Film heißt es hingegen immer wieder nur, „viele Evangelikale“ denken dies oder glauben das – wie viele „viele“ sind von den eingangs genannten 60 Millionen und was zum Beispiel leitende Evangelikale von einer der vielen Denominationen dazu sagen, darüber gibt die Doku keine Auskunft.
Das Problem des Films ist, dass er nicht weiß, wo er hin will. Geht es um das Verhältnis von Religion und Staat? Geht es um streng gläubige und etwas weltfremde Jugendliche? Geht es um eine religiöse Parallelwelt? Geht es darum, wie Evangelikale mit ihren Festivals, Spendenaufrufen und Freizeitparks Geld scheffeln? Oder geht es um durchgeknallte Waffen-Freaks, die ihre Ideologie mit Bibelversen begründen? Die Doku wirft alles zusammen und sagt: Das sind „die“ Evangelikalen. Was „die“ Evangelikalen sind oder warum sie so sind, wie sie sind, beantwortet sie aber nicht. Inwiefern sie eine „Supermacht“ sind, wie es im Titel heißt, übrigens auch nicht.
„Bibeltreue Supermacht. Evangelikale in den USA“, ZDF info, Erstausstrahlung am 28. Juli; Wiederholungen am 7. August, 2 Uhr und 17.15 Uhr, 8. August, 6 Uhr; bis 31. Mai 2023 in der Mediathek