Der Schutz des ungeborenen Lebens ist ein hoher Wert. Es ist richtig und notwendig, dass sich viele Christen dafür stark machen: die Würde des Menschen schon vor seiner Geburt in der Öffentlichkeit hochhalten, oder Frauen in Schwangerschaftskonflikten beraten, unterstützen und ermutigen, sich für ihr Kind zu entscheiden. Was aber nicht geht: Abtreibungen mit dem Holocaust zu vergleichen, um die Drastik des Problems hervorzuheben. Leider gibt es aber immer wieder einige Christen, die genau das machen. Die Webseite babycaust.de ist das wohl grausigste und plakativste Beispiel dafür. Schon mehrmals befassten sich Gerichte damit. Nun will auch die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel eine Unterlassung gegen den Seitenbetreiber Günther Annen erwirken.
Aber der Vergleich mit dem Holocaust kommt mitunter auch subtiler daher. So heißt es in einem aktuellen Informationsblatt des „Glaubens- und Missionswerks AG Welt“: Der Eindruck dränge sich auf, dass immer wieder an den Holocaust erinnert werde, um „ein schlechtes Gewissen für immer wach zu halten, um ein ganzes Volk politisch leichter lenken zu können. … Was aber ist mit den mittlerweile ca. 7 bis 8 Millionen vor ihrer Geburt durch Abtreibung getöteten Kinder?“ Bitte?! Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Nichts! Dieser Vergleich ist völlig unhaltbar und wird weder der historischen Verantwortung noch dem Schutz des Lebens gerecht. Von der angedeuteten Verschwörung ganz zu schweigen.
Der Holocaust, die systematische Menschenvernichtung, ist ein einzigartiges katastrophales Ereignis in der deutschen Geschichte. Aus christlicher Perspektive lässt sich seine Besonderheit darin sehen, dass sich dieser Völkermord gegen das Volk des lebendigen Gottes richtete. Er war die Folge einer menschenverachtenden Ideologie, die ein Teil der Deutschen aktiv unterstützte und der sich ein noch größerer Teil unwidersprochen beugte. Die Erinnerung daran müssen wir unbedingt wach halten, denn die Geschichte lehrt uns, wie schnell es zu solchen Auswüchsen kommen kann. Sie lehrt uns, wachsam und demütig zu bleiben – und auch dankbar für das Wohlergehen, das unserem Land und seinen Menschen trotz der historischen Schuld in den vergangenen Jahrzehnten beschieden war.
Die Vergleiche verbieten sich
Ein Vergleich mit Abtreibungen verbietet sich allein aufgrund dieser Bedeutung. Wenn Frauen sich bedauerlicherweise dafür entscheiden, ihr Kind nicht zur Welt zu bringen, ist das ein sehr persönlicher Schritt, den sich wahrscheinlich die wenigsten leicht machen, bei dem immer viele verschiedene Faktoren ausschlaggebend sind – und für die es auch klare gesetzliche Regelungen gibt, damit dies nicht leichtfertig geschieht. In der Tat herrscht heute ein eher liberales Klima vor, in dem Abtreibungen gesellschaftlich und moralisch als weniger verwerflich angesehen werden als vor ein paar Jahrzehnten. Für Feministinnen hat dies zentral mit den Rechten zu tun, die eine Frau beanspruchen kann.
Aber hierbei den Holocaust als Vergleichsmaßstab heranzuziehen oder von „systematischem Massenmord“ zu sprechen, ist weder zutreffend noch irgendwie angemessen. Dafür sind beide Dinge auch viel zu komplex. Am allerwenigsten wird es den Frauen helfen, die in einem Schwangerschaftskonflikt stecken oder vielleicht an den Folgen einer Abtreibung leiden. Wer sich für das ungeborene Leben einsetzt, sollte vor allem an der Seite der Schwangeren stehen und den Wert des Lebens großmachen – wie es viele christliche Organisationen auch tun.
Vergleiche mit dem Holocaust verbieten sich auch auf anderer Ebene. Der Autor des christlichen Pamphlets beklagt etwa, über andere Verbrechen des 20. Jahrhunderts wie den Völkermord an den Armeniern oder die Millionen Opfer kommunistischer Regime werde kaum gesprochen – einzig über die deutsche Schuld des Holocaust. Wozu sollen die Bezüge zu anderen Verbrechen dienen? Es ist doch klar, dass wir uns als Deutsche in erster Linie an die eigene dunkle Vergangenheit erinnern müssen. Solcherlei Vergleiche wirken angesichts des eigenen Versagens wie hilfloses Fingerzeigen auf andere, die angeblich noch viel schlimmer waren als man selbst. Ganz abgesehen davon, dass jeder Völkermord einzigartig und für sich katastrophal ist, eingebettet in ganz konkrete historische, kulturelle und politische Umstände. Sie gegeneinander aufzuwiegen, hilft nicht dabei, nützliche Lehren daraus zu ziehen. Und nein, heutige Generationen des deutschen Volkes sind nicht schuld am Völkermord an den Juden. Allerdings es ist unsere Verantwortung, die Erinnerung daran wach zu halten, um hoffentlich zu verhindern, dass so etwas wieder geschieht.
Aber bitte: Hört auf mit diesen Vergleichen!