Am Montagmorgen klingelt in der Arche in Berlin-Hellersdorf das Telefon, ein Notfall. Eine Mutter hat am Sonntag ihren Mann und ihre sieben Kinder verlassen, um zu ihrem neuen Freund zu ziehen. Die Kinder, zwischen sechs und 17 Jahre alt, brauchen dringend Unterstützung, sagt Bernd Siggelkow, der das christliche Kinder- und Jugendwerk vor etwa 25 Jahren gegründet hat. Doch wie kann man sich um Kinder kümmern, wenn wegen Covid-19 ein Kontaktverbot herrscht? Das Arche-Team beschließt: Ein Mitarbeiter telefoniert mit der Mutter, um mit ihr über ihre Entscheidung zu sprechen. Ein anderer fährt zur Familie und versucht, den verunsicherten Kindern an der Haustüre Mut zu machen.
In den Arm nehmen, Tränen trocknen, das geht im Moment nicht mehr. Für viele Kinder, die die Arche betreut, ist das nur schwer erträglich. Wenn Siggelkow an den Türen klingelt, lauern ihm die Kinder manchmal auf, um ihn umarmen zu können. Neulich ist ein Junge hinter ihm fünf Stufen die Treppe hinuntergesprungen, damit dem Arche-Gründer nichts übrig blieb, als ihn aufzufangen.
Im Moment ist der Arche-Gründer im Dauereinsatz, berichtet er im Gespräch mit pro. Siggelkows Tag beginnt um 7 und endet um 23 Uhr. Seine Mitarbeiter schieben von 8 bis etwa 18 Uhr Dienst. Deutschlandweit engagieren sich 240 Angestellte und 300 Ehrenamtliche bei dem Werk. Seit Corona hat sich ihr Arbeitsalltag komplett geändert. Kinder aus Familien, die es oft schwer haben, kommen normalerweise in die Arche, um dort zu Mittag zu essen, zu spielen und mit den Betreuern ihre Hausaufgaben zu machen. Manche Familien sind finanziell darauf angewiesen, dass ihre Kinder eine gesunde Mahlzeit bekommen. Deshalb kommt das Essen nun zu ihnen: Arche-Mitarbeiter bringen den Familien das Essen bis an die Haustüre. Das bedeute erheblich mehr Aufwand, sowohl personell als auch finanziell, so Siggelkow.
Hausaufgabenbetreuung per Videochat
Doch mit praktischer Hilfe ist es nicht getan. Als das Kontaktverbot in Kraft trat, sagte der Arche-Gründer: „Auch wenn die Türen zu sind, sind die Herzen offen.“ Denn gerade Familien in engen Wohnungen mit mehreren Kindern brauchen auch persönliche Unterstützung, zum Beispiel bei den Hausaufgaben. „Manche bildungsferne Familien haben überhaupt nicht die Möglichkeit, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen.“ Morgens schicken die Kinder eine Nachricht an ihren Lieblingsbetreuer, wann er heute mit ihnen Hausaufgaben machen könnte. Sie einigen sich auf einen Termin und machen die Hausaufgaben dann per Videochat gemeinsam. Eine Mitarbeiterin macht den ganzen Tag nichts anderes, als Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Viele Eltern brauchen zudem Unterstützung beim Heim-Unterricht.
Arche-Gründer Bernd Siggelkow fordert in einer Videobotschaft vom Staat eine bessere Unterstützung für Kinder aus bildungsfernen Familien: „Wir kämpfen für Chancengleichheit“
In einer WhatsApp-Broadcasting-Gruppe für Eltern gibt die Arche regelmäßig wichtige Informationen weiter. In einer zweiten Gruppe tauschen sich die Kinder untereinander aus, schicken Fotos und machen Witzchen. Aber: Die Gruppe ist nur von 9 bis 20 Uhr geöffnet. Wer sich nicht daran hält und spätabends Nachrichten schickt, fliegt für 24 Stunden raus.
Die Kinder brauchen den Kontakt untereinander mehr denn je. „Die Isolation ist die Hölle für die meisten Familien“, sagt Siggelkow. Eine alleinerziehende Mutter von fünf Kindern hat ihm kürzlich gesagt, sie habe seit Tagen nichts gegessen, weil sie sich sorge. Wenn Kinder sich streiten, können die Eltern nicht einfach eines von ihnen nach draußen schicken. Zudem droht eine Art Lagerkoller: „Wenn die Playstation-Spiele alle durchgezockt sind, fangen manche vielleicht an, das Laminat zu zerkratzen oder die Wände zu bemalen.“ Wenn ein Kind normalerweise dreimal die Woche zwei Stunden Fußball spielt, fehlt nun zwangsläufig der körperliche Ausgleich.
Zu gewinnen: Eine Runde Pizza für die ganze Familie
Deswegen setzt die Arche Anreize, für eine begrenzte Zeit nach draußen zu gehen. Alle Geräte der Arche, mit denen man fahren kann, haben die Mitarbeiter daher an die Kinder verteilt: Fahrräder, Roller, Inliner. Die Kinder bekommen dann die Aufgabe, Bilder davon zu schicken. Dafür erhalten sie Punkte. Wer am Ende die meisten Punkte hat, bekommt am Ende der Woche eine Pizza-Lieferung für die ganze Familie. Das motiviert auch die Eltern, mitzumachen.
Einmal in der Woche kommen Mitarbeiter zu den Familien und bringen ihnen Gesellschaftsspiele: Uno, Dobble, Ligretto – was sich eben im Moment in großer Stückzahl auftreiben lässt. Freitags erscheint ein YouTube-Tutorial, am Wochenende können die Familien spielen und das per Smartphone dokumentieren. Auch dafür bekommen sie Punkte, genauso wie für die „Tageschallenge“: Neulich brachten die Mitarbeiter den Arche-Kindern Mais nach Hause, die ganze Familie sollte Popcorn daraus machen. Jeden Tag gibt es einen Livestream mit Rätseln und Quiz für die Kinder. Die Anreize mit dem Punktesystem sorgen dafür, dass Kinder und Eltern aktiv bleiben.
Durch die neue Situation ist die Arche auf Unterstützung angewiesen. Manche Familien haben zum Beispiel gar nicht die nötigen Geräte für einen Videochat. „Wir brauchen unbedingt gebrauchte Tablets und Smartphones, die WhatsApp-fähig sind, außerdem haben wir auch viel höhere Kosten, weil wir das Essen nun ausliefern müssen“, berichtet Siggelkow.
„Verschone die Arche-Mitarbeiter“: Junge betet in Chatgruppe
Die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung findet er im Kern richtig. „Mir fehlte aber die Transparenz. Wenn manche Eltern eher Sat.1 und RTL schauen und nicht die Ansprache der Bundeskanzlerin, kommen wichtige Informationen nicht an.“
Die Arche ist eine christliche Organisation, missioniert aber nicht im klassischen Sinne, auch wenn die Mitarbeiter über ihren Glauben sprechen. Siggelkow fällt auf, dass der Glaube bei den Kindern in dieser Zeit eine wesentlich größere Rolle als sonst spielt. „Die Kinder merken, dass sie nichts gegen das Virus tun können und suchen daher auch Hilfe bei Gott.“ Ein muslimischer Junge hat neulich ein Gebet als Sprachnachricht in die WhatsApp-Gruppe geschickt: „Ich hasse Corona. Ich bete, dass die Arche-Mitarbeiter und die Kinder verschont werden von dem Virus. Hilf uns, Jesus, dass es allen gut geht.“
Die Arche-Mitarbeiter versuchen weiterhin, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen. Siggelkow: „Der Schlüssel zum Herzen eines Menschen ist nicht Programm, sondern Beziehung und Liebe.“
Von: Nicolai Franz