Corona: „Männer haben nun noch mehr Macht über Prostituierte“

In der Coronakrise ist der zwischenmenschliche Kontakt stark eingeschränkt, niemand soll sich zu nahe kommen. Das gilt auch für Prostitution. Können die Frauen im Rotlichtmilieu jetzt also aufatmen? Mitnichten, sagt der Streetworker Gerhard Schönborn. Die Situation habe sich sogar verschlechtert.
Von Nicolai Franz
Das Café Neustart musste wegen der Corona-Krise schließen, nun verteilen Gerhard Schönborn und seine Mitarbeiter auf dem Bürgersteig Lebensmittel, Kaffee und Süßigkeiten an Prostituierte in der Kurfürstenstraße

Normalerweise finden Prostituierte am Straßenstrich in der Kurfürstenstraße im „Café Neustart“ Zuflucht, können sich bei einer Tasse Kaffee ausruhen und mit den Mitarbeitern sprechen. Seit auch Berlin das öffentliche Leben weitgehend eingeschränkt hat, musste das Café ebenfalls schließen. Gerhard Schönborn, Leiter des Hilfsprojektes, stellt nun einen Biertisch auf den Bürgersteig und verteilt mit seinen Mitarbeitern Lebensmittel, Kaffee und Süßigkeiten.

300 bis 400 Prostituierte sind in normalen Zeiten an der Kurfürstenstraße und Parallelstraßen unterwegs, meist bis zu 50 gleichzeitig. Als die neuen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Sars-CoV2-Virus in Berlin in Kraft getreten seien, seien ganze Gruppen von Frauen innerhalb weniger Stunden verschwunden, sagt Schönborn gegenüber pro. „Die meisten von ihnen gehören zu Zuhältern und Menschenhändlern. Sie haben die Frauen vom einem auf den anderen Moment eingepackt und weggebracht.“

„Verrichtungsboxen“ statt Ausstiegsprogrammen

Trotzdem läuft das Geschäft weiter, denn gerade die Armutsprostituierten sind auf jeden Euro angewiesen. Am Dienstag hat Schönborn noch mit einigen Prostituierten gesprochen. Unter ihnen herrsche noch größere Verzweiflung als ohnehin schon. „Die Frauen werden aggressiv, sie schreien. Sie wissen nicht, wie sie die nächsten Wochen überleben sollen.“ Die Stundenhotels und Sexkinos haben geschlossen, also müssen die Frauen auf Autos und die vom Senat aufgestellten Ökotoiletten ausweichen, die nun als „Verrichtungsboxen“ dienen. Eine steht vor einer Kirche, die andere vor einem Spielplatz. Manche der Frauen bedienen Männer für zehn Euro – weil sie keine andere Wahl haben.

Viele der Frauen seien nun de facto obdachlos, weil viele Einrichtungen, die sonst wenigstens eine Übernachtungsmöglichkeiten bieten, geschlossen sind. Wohnungslosigkeit sei schon vor der Coronakrise ein großes Problem gewesen. Nun habe es sich deutlich verschärft. Immerhin, so Schönborn, gebe es noch „die Pumpe“, eine Einrichtung der Kältehilfe, wo einige Frauen schlafen könnten. Für die, die dort keinen Platz gefunden haben, verschärfe sich die Lage. Manche Männer böten Prostituierten an, bei ihnen zu Hause auf einer Matratze zu schlafen. Im Gegenzug müssten sie ihnen aber sexuell zu Diensten stehen. „Dadurch haben die Männer nun noch mehr Macht über Prostituierte.“ Zusammen mit den beiden Organisationen „Ella“ und „Sisters“ sammelt das Café Neustart in einem Notfonds Spenden für Frauen in der Prostitution.

Die meisten Prostituierten arbeiten nicht freiwillig

Die Zahl der Frauen, die Drogen wie Chrystal Meth konsumieren, um ihre Situation zu ertragen, wachse, sagt Schönborn. Da die meisten von ihnen aus Ungarn, Bulgarien und Rumänien kämen, hätten sie in der Regel keine Krankenversicherung – und damit auch keine Aussicht auf einen medizinisch betreuten Entzug. „Sie sind in einer Zwickmühle, aus der sie ohne Hilfe nicht rauskommen.“

Zudem würden immer noch manche Verbände so tun, als würden sich Frauen freiwillig prostituieren. Tatsächlich handle es sich bei den meisten Frauen im Rotlichtmilieu um Armuts- und Zwangsprostitutierte, so Schönborn. Diese wollten eigentlich eine normale Arbeit und ihren Platz in der Gesellschaft finden. Der Berliner Senat habe sich aber nicht ernsthaft für Ausstiegswege aus der Prostitution eingesetzt. Statt in entsprechende Programme zu investieren, habe er lediglich Verrichtungsboxen aufgestellt, die das Leid der Prostituierten nur etablierten. „Das rächt sich jetzt.“

Von: Nicolai Franz

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