1955. Ums Taufbecken der evangelischen Kirche im westfälischen Gronau stehen die vier Kinder des alkoholkranken Klempners Gustav Lindenberg und seiner Frau Hermine: Erich, die Zwillingsschwestern Erika und Inge – und Udo, gerade mal neun Jahre alt, im schicken Anzug mit kurzer Hose. In den Kirchenbänken kichern einige Spielkameraden. Die Oma – „streng gläubig“ – hingegen ist selig. Ihr inniger Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ihre Enkelkinder endlich getauft. „Ich war mir nicht sicher, ob es den alten Mann mit dem weißen Bart, der alles sieht und alles hört und alles kann, nicht doch irgendwo auf Wolke Sieben gab“, erinnert sich Udo Lindenberg später, „außerdem war ich zufrieden, nun wie alle anderen ein Christenmensch zu sein“. Zumal Udo ja schon gerne den evangelischen Kindergarten besucht und dort Grundlagen des christlichen Glaubens vermittelt bekommen hatte. Nun macht er sogar bei den Gronauer christlichen Pfadfindern mit – als Wölfling Udo.
Das Ziel seiner Sehnsucht nach Leben und Freiheit wird er in seinem Elternhaus, in der Kirche, ja in ganz Gronau nicht finden – das steht nach der Schule schnell für ihn fest. Seine Suche beginnt. Von den Büchern Hermann Hesses ist er begeistert. Schnell entdeckt er seine Liebe für Musik, wird Jazz-Schlagzeuger. Er zieht nach Hamburg, sein Ziel: Rockstar werden. Vielen Menschen begegnet er, die „leider nur ein Vakuum“ im Kopf haben. Auch Frauen befriedigen nicht seine wahre Leidenschaft: mit Musik das auszudrücken, was ihm am Herzen liegt. Mit nahezu missionarischem Eifer möchte er Menschen aus der Lethargie zurück ins pralle Leben führen. Dazu nutzt er die deutsche Sprache. Aber anders als in den Schlagern der seichten Hitparaden-Szene schreibt Lindenberg ehrliche Texte. Er schaut dem Volk aufs Maul. „Alles klar auf der Andrea Doria“: Die so liebevolle wie derbe Schilderung Hamburger Kneipengestalten macht ihn 1973 auf einen Schlag berühmt. Selbstironisch beschreibt er sich als gottgesandten „neuen Messias“, der nicht recht weiß, wie er diese Aufgabe nun ausfüllen soll. Seine Band nennt er „Panik-Orchester“ – dabei lautet Lindenbergs Botschaft eigentlich: „Keine Panik!“
Die Folge eines Klosterbesuchs: Lindenberg entschärft Text
Die heillose Liaison mit „Lady Whisky“ führt ihn in Abgründe, seinen Lebensmut bricht sie aber nicht. 1988 beschreibt er sich als „pessimistisch oft im Denken, optimistisch in der Tat“ – und gesteht: „Ganz rührend finde ich den Ausspruch von Martin Luther (sic): Selbst wenn morgen nichts mehr ginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Es gibt keine Alternative zum Optimismus für mich. Die Alternative ist Resignation, Sodom und Gomorrha. Das können wir nicht verantworten, uns selber gegenüber nicht und allen Generationen, die nach uns kommen.“ Den US-Baptistenprediger und Bürgerrechtler Martin Luther King zählt er zu seinen Vorbildern.
Auch Glaubensthemen verarbeitet er in seinen Songs. 1984 ein freches Lied über Nonnen. Zwei Franziskanerinnen laden daraufhin Lindenberg zu sich ein. „Die haben mir gleich ein paar Sachen erzählt, die ich noch nicht bedacht hatte“, erzählt er danach und lobte die „freundschaftliche Atmosphäre“. Eine Folge des Klosterbesuchs: Lindenberg entschärft den Text. In einem unveröffentlichten Songtext stellt er sich vor, dass „irgendwo in einem Bretterhaus“ Jesus erneut zur Welt kommt – „die tollsten Wunder gescheh’n“ und „man kann wieder übers Wasser geh’n“. „Wenn das nicht passiert, dann ist das Loblied bald verhallt, dann wird die Kirche abgeschafft, Scheinchristen sind so abgeschlafft!“ Lindenbergs Analyse der Christenheit würden wohl viele Fromme teilen.
Kunst von Lindenberg: Bildzyklus über die Zehn Gebote
Ziemlich unbekannt bleibt seine Vertonung des biblischen Hohelieds („Salomon“, 1995) mit lasziv dahinplätschernder Jazz-Melodie und einem Chor, der sogar hebräisch singt. Der Paniker bleibt dem biblischen Text treu: „Die Liebe ist stark wie der Tod.“ Und schließlich sein größter Hit: „Hinterm Horizont geht’s weiter“. Mit diesem Lied verarbeitet er 1986 seine Trauer um eine nahe Freundin, die verstorben war. Dass mit dem Tod alles aus sein soll, kann er nicht glauben.
2006 ein tiefer Bruch in Lindenbergs Leben. Der Tod seines Bruders und engen Vertrauten Erich wirft Udo Lindenberg aus der Bahn. Er beschließt, sein Leben zu ändern, besiegt den Alkohol und setzt an zum Comeback. Mit überwältigendem Erfolg bis heute.
Nicht nur als Musiker, auch als Kunstmaler. Sein Markenzeichen: Flink gezeichnete Figuren, mal lustig, mal derb. Zu seinen bekanntesten Werken gehört ein Bildzyklus über die Zehn Gebote, der 2018 beim Katholikentag und in Kirchenausstellungen zigtausende Menschen an das Thema heranführte.
„Exklusiv-Interview“ mit Gott
Die Sache mit Gott lässt ihn nicht los. In einem seiner neueren Lieder trifft er Gott in einem „Exklusiv-Interview“. „Ey, wieso lässt du uns so lange hängen?“, fragt Lindenberg Gott, „wenn du doch der liebe Gott bist, warum lässt du dann Kriege zu?“ Und was antwortet Gott? „Ihr wisst doch, ich habe eure Welt so schön für euch erschaffen. Doch ihr, ihr habt sie vollgeknallt mit Waffen. Ja, wenn der Mensch nicht weiter weiß, dann macht er mir den Himmel heiß. Doch es nützt kein Beten – kümmert euch jetzt mal selber um euern Planeten!“
Dann wieder beschreibt er Gott, der Menschen „so wie ein Schatten“ durch schwere Zeiten trägt. Ein anderer Song entwickelt sich zum Wunschlied auch bei kirchlichen Beerdigungen. „Wenn du gehst“ heißt er und schildert den Abschied von einem geliebten Menschen: „Ein anderer nimmt dich an die Hand … doch eines fernen Tages sehen wir uns wieder.“
Gegenüber dem Hamburger Abendblatt outete sich Lindenberg 2015 als religiöser „Freiglauber“: „Wenn es sowohl die eine wie auch die andere Möglich- (oder auch Unmöglichkeit) gibt, freunde ich mich mit der mir angenehmeren Version an. Also glaube ich.“ Hinterm Horizont wird Oma Lindenberg sich freuen auf ihren Enkel.
Aktuelles Buch: „Udo Lindenberg – Mach Dein Ding. Die frühen Jahre – wie aus dem kleinen Matz der große Udo wurde“ von Peter Feierabend, Udo Lindenberg, Frank Bartsch, Edel, Hamburg 2019
Aktueller Film: „Lindenberg! Mach Dein Ding“ (Kinostart 16.1.2019)
Autor Uwe Birnstein und Gitarrist Werner Hucks präsentieren in Kirchengemeinden das Programm „Luther & Lindenberg – Zwei Deutsche für ein Halleluja“. Infos gibt es unter www.birnstein.de.
Von: Uwe Birnstein