Kunstfreunde bewundern die Schaffenskraft, mit der Vincent van Gogh hunderte Bilder in nur wenigen Jahren in einer Art Rausch erschuf. Andere sehen in dem Künstler einen „Verrückten“, der sich im gequälten Seelenzustand ein Ohr abschnitt. Dass der Maler, dessen Werke noch heute Hundertausende in Museen weltweit locken und auf dem Kunstmarkt Spitzenpreise erzielen, eigentlich Prediger war und das Evangelium existenziell verstand, wissen die Wenigsten.
Van Gogh ist aufgewachsen in einer frommen, calvinistisch geprägten niederländischen Pastorenfamilie in Brabant, einer Provinz im Süden der Niederlande. Wie sein Vater wollte Vincent Pfarrer werden. Er scheiterte jedoch am Theologiestudium, genauer am Griechischen. Die Theologin Birte Göschl hat in ihrer Doktorarbeit die Religiositiät, Spiritualität und Glaubenssuche des Malers anhand des umfangreichen Briefwechsels mit seinem Bruder Theo ergründet: „Bei Vincent van Gogh bricht die Religiosität plötzlich auf und wird sichtbar, als er in seine erste tiefe Lebenskrise gerät. Er hat nach einem Anker gesucht.“ Die Religiosität half dem Künstler, mit Krisen fertigzuwerden. Auf den Tag genau ein Jahr vor dem Tag seiner Geburt war sein Bruder Vincent Wilhelm van Gogh geboren und bald gestorben. Vincent sollte den Eltern als „Ersatz“ dienen und erhielt den Namen des toten Bruders. Eine Bürde für den Heranwachsenden, die er in der Form eines Grabsteins vor Augen hatte.
Der Versuch, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, scheiterte. Der bürgerliche Segen des Vaters blieb Vincent zeitlebens verwehrt. Sein erster Liebeskummer führte ihn in eine tiefe Sinnkrise und sein religiöses Interesse wurde so groß, dass er Laienprediger im belgischen Kohlerevier wurde. Er entschied sich bewusst für das einfache, harte Leben der Arbeiter in Armut und Schmutz. So verstand van Gogh das Evangelium und die Bibel. Weil dem Kirchenvorstand stattdessen ein strahlender Theologe mit tiefgründigen Sonntagspredigten vorschwebte, musste er gehen. Dass er den Menschen zugewandt war und unter ihnen lebte, missfiel nicht nur den Kirchenoberen, sondern auch van Goghs Vater. Vincent habe seine Eltern als bigott erfahren, weil die nicht lebten, was der Vater als Pfarrer propagierte, meint Göschl.
Für die Suche nach seiner eigenen Sinnhaftigkeit bediente sich van Gogh schließlich der Sprache der Malerei: Bilder und Symbole wurden zur religiösen Sprache. Zahlreiche Briefe sind ein Schlüssel zum Verständnis seiner Bilder. Göschl erklärt: „Er sagt auch, was er nicht malt, und beschreibt dann gleich im nächsten Satz, warum er etwas anderes malt. Die Briefe geben Aufschluss darüber, wie er religiöse Motive umsetzt.“ Den auferweckten Lazarus versieht er beispielsweise mit den eigenen Zügen und rötlichem Haar. Dahinter die Sonne, die das Symbol ist für Christus, der das Leben schenkt und der das Licht ins Leben bringt. Hat van Gogh den Glauben irgendwann über Bord geworfen? Göschl will sich nicht festlegen. „Ist jemand kein Christ, wenn er sich nicht mehr christlich ausdrückt oder das Glaubensbekenntnis nicht nachsprechen oder das Vaterunser beten kann?
Fest steht, dass er in den biblischen Bildern einen haltgebenden Sinn für sich hat finden können, um zu überleben.“ Van Gogh hat mit der Malerei einen Weg gesucht, um seiner Religiosität Ausdruck zu verleihen. Er wurde für viele Maler der Moderne zum Vorbild. Sein eigenwilliger und einzigartiger Stil mit strahlenden Farben und kraftvollen Pinselstrichen gilt als Ausdruck seines Genies. Um den Niederländer ranken sich auch Mythen. Etwa, dass er zu Lebzeiten kein Bild verkaufte. Oder dass er verwirrt Selbstmord beging. Der leidende Künstler wurde vor allem in Deutschland bald nach seinem Tod regelrecht verehrt, zu einer Art „Messias“ einer neuen Epoche der Kunst erhoben und geradezu religiös überhöht.
Vincent van Gogh ist am 30. März 1853 in Groot-Zundert, Niederlande, geboren und am 29. Juli 1890 im französichen Auvers-sur-Oise gestorben. Der Maler hat in zehn Jahren mehr als 800 Gemälde und über 1.000 Zeichnungen geschaffen. Derzeit widmet sich das Städel Museum in Frankfurt am Main in der Ausstellung „Making van Gogh“ dem Künstler. Die Ausstellung mit 50 Schlüsselwerken aus allen Schaffensphasen des Malers ist bis zum 16. Februar 2020 zu sehen. Dazu hat das Städel Museum ein multimediales Digitorial unter vangogh.staedelmuseum.de und einen Podcast unter findingvangogh.de im Internet veröffentlicht.
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Von: Norbert Schäfer