Michael Diener wirkt angespannt, konzentriert. Der 57-Jährige ist Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er gehört zu den bekanntesten Theologen des Landes, ist ein Gesicht der evangelikalen Bewegung. Schon hunderte Male hat er in seinem Leben gepredigt – doch was ihm nun bevorsteht, ist auch für ihn neu.
Fokussiert blickt er zum Jugendchor, der gerade melodisch „Schalom Israel“ – Friede für Israel – singt. Gleich wird Diener sprechen. Diesen Frieden wird er zu verkündigen haben – vier Tage, nachdem an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, ein rechtsextremistisch motivierter Terrorist in Halle zwei Menschen erschossen hat. Er hatte es auf Synagogenbesucher abgesehen, nur eine widerstandsfähige Tür verhinderte noch mehr Blutvergießen. Diener wird Halle aufgreifen müssen, das weiß er – und die Kamera läuft.
Es ist Sonntagmorgen am 13. Oktober 2019, das ZDF sendet den evangelischen Fernsehgottesdienst aus der Johanneskirche im rheinland-pfälzischen Pirmasens, Dieners Heimatstadt. Dass er hier predigen würde, wusste Diener seit Januar. Halle konnte er nicht voraussehen. Ein Fernsehgottesdienst erreicht im Schnitt etwa 700.000 Zuschauer in der gesamten Republik. Diener ist klar: Die erste medienwirksame evangelische – ja überhaupt kirchliche – Stimme zu dem Anschlag wird seine sein.
GEP koordiniert Gottesdienst
Eigentlich hätte es anders kommen sollen. Vor rund einem Jahr hatte Diener die Anfrage erreicht, ob er sich vorstellen könne, mal wieder in einem Fernsehgottesdienst zu predigen. Es wäre sein zweiter. Er selbst hat als passenden Ort die Kirche in seiner Heimatstadt vorgeschlagen, deren Gemeindepfarrer er jahrelang war. Nun steht er mit seiner Nachfolgerin, Pfarrerin Kerstin Strauch – die sich die Pfarrstelle mit ihrem Mann teilt –, an alter Wirkungsstätte und versucht, Worte der Hoffnung und Versöhnung zu finden.
In den Vorbereitungen hatte Diener eng mit dem Pfarrerehepaar Strauch, vor allem aber mit Elke Rudloff zusammengearbeitet. Rudloff ist selbst Pfarrerin, aber in Sonderfunktion – sie arbeitet für das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, kurz GEP, das die meisten medialen Aktivitäten der Evangelischen Kirche koordiniert. Rudloff ist eine von zwei Sendebeauftragten für die evangelischen Gottesdienste im ZDF. Sie ist für den Westen Deutschlands und damit auch für Pirmasens zuständig, sorgt für die Koordination zwischen ZDF und Kirche, ist das Gehirn der gesamten Abläufe. Der öffentlich-rechtliche Sender überträgt jeden Sonntag einen Gottesdienst, zumeist evangelisch und katholisch im Wechsel.
Hoffnungslosigkeit und Extremismus bedingen sich
Das eigentliche Thema an diesem Sonntag lautet „Gebet und Spucke“. Pirmasens ist eine Stadt auf dem absteigenden Ast. Früher als Zentrum der deutschen Schuhindustrie bekannt, hat die Globalisierung den Ort hart getroffen, der Abzug eines großen Kontingents von US-Truppen tat sein Übriges. Viele Fabriken stehen leer, Hoffnungslosigkeit und ökonomische Depression liegen in der Luft. Dagegen helfen soll eine Mischung aus Gottvertrauen und harter Arbeit – Gebet und Spucke eben. Diese Grundidee greift Diener auch in seiner Predigt auf.
Ansonsten hat er sie aber etwas umgeschrieben. Als die Nachricht von den Anschlägen in Halle durch das Land ging, war sich das Vorbereitungsteam sofort einig: Ignorieren kommt nicht in Frage – das hätte weder dem Evangelium noch dem Öffentlichkeitsauftrag der Kirche entsprochen.
Also begann das Team, E-Mails zu schreiben, dutzende am Tag, aus den verschiedensten Ecken Deutschlands. Diener und Rudloff vor allem, aber auch die ZDF-Produktionsleitung, das Pfarrerehepaar und Maurice Crossaint, der Bezirkskantor. Die gesamte Liturgie wurde so in einer virtuellen Hauruck-Aktion angepasst. Aus neun Monaten Vorbereitungszeit inklusive dreier Live-Proben – bevor überhaupt irgendjemand vom Fernsehen beteiligt war – wurde ein Blindflug innerhalb einer halben Woche.
Alles ändern wollte und konnte das Team jedoch nicht. Es ging um eine Balance; Halle durfte nicht wie ein Fremdkörper wirken. Eine Verbindung habe sich angeboten, meinte Rudloff, auch wenn man sie bewusst nicht explizit gemacht habe. Situationen ökonomischer Perspektivlosigkeit wie die in Pirmasens sind ein Nährboden für rechtsextremes Gedankengut. Diejenigen in der Gesellschaft, die sich abgehängt fühlen, suchen oft nach Schuldigen, rechtspopulistische Parteien schlagen daraus Kapital.
Theologen und Journalisten können voneinander lernen
Ein Fernsehgottesdienst ist speziell, eine besondere Verantwortung, schon wegen der vielen Menschen, die ihn am Bildschirm verfolgen. „Manche Menschen haben keine andere Möglichkeit, überhaupt einen Gottesdienst mitzufeiern“, sagt Rudloff. Das sei die liturgische Herausforderung: Es gehe um aktive Beteiligung. Die Menschen vor den Fernsehern sollen nicht nur Zuschauer sein. „Wir denken das als einen Gottesdienst an zwei Orten – einen geistlichen Dienst der Ortsgemeinde an der Fernsehgemeinde.“ Entsprechend ist der Gottesdienst so gestaltet, dass die Gemeinde von sich wegblickt, nicht ihre eigene Situation in den Vordergrund stellt. Aus theologischer Perspektive sollen gerade die Kirchenfernen erreicht werden. Die durchschnittlichen Fernsehgottesdienst-Zuschauer sind weiblich und über 60 – gerade sie hat Rudloff im Blick, durchaus auch in evangelistischer Absicht, wie sie sagt. „Empfängerorientierung“ nennen das die Fernsehleute.
Die haben an diesem Wochenende einiges zu tun. „Die Zusammenarbeit mit dem ZDF ist super und professionell. Wir Theologen können von den Journalisten einiges lernen – über Dramaturgie, über Bilder“, sagt Rudloff. Die Medienschaffenden seien ihrerseits dankbar für den Fernsehgottesdienst, betrachteten ihn nicht als unangenehme Pflichtaufgabe. Einen professionellen Graben zwischen Theologen und Journalisten scheint es nicht zu geben.
Dabei ist ein Fernsehgottesdienst als solcher – eine Verkündigungssendung in den säkularen, öffentlich-rechtlichen Medien – nicht selbstverständlich. Die Kirchen sind hier privilegiert. Das sogenannte Drittsenderecht räumt ihnen feste Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk ein, die sie noch dazu inhaltlich frei gestalten dürfen. Übertragen auf eine andere gesellschaftliche Gruppierung, etwa eine politische Partei, wäre eine solche Konstruktion in der demokratischen Gesellschaft geradezu grotesk. Doch den Kirchen gesteht sie eine besondere Integrität zu.
Im „Loccumer Vertrag“ von 1955 hat die Bundesrepublik Deutschland festgelegt, dass sie in der medialen kirchlichen Verkündigung eine „werteorientierende Funktion“ für das demokratische Gemeinwesen sieht. Insofern ist ein Fernsehgottesdienst auch ein Dienst der Kirche an Staat und Gesellschaft. In Pirmasens wird das angesichts von Halle sehr praktisch. „Wenn jüdische Menschen sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen, ist unsere Demokratie am Ende“, sagt Diener in seiner Predigt.
Akribische Planung
Das scheint auch den betriebenen Aufwand wert. Dutzende von Fernsehleuten schieben am Samstag vor dem Gottesdienst Zwölfstundenschichten. Die höchstens mittelgroße Johanneskirche ist über und über vollgestopft mit Technik, Kabeln, Kameras. Auf dem Hof steht ein Sendewagen für die Übertragung in die Mainzer Zentrale. Alles ist minutiös getaktet. Der Gottesdienst wird live übertragen. Wenn die Kamera läuft, ist kein Raum mehr für Fehler.
Deshalb wird 24 Stunden vorher noch einmal akribisch geprobt: In den Tonproben wird die Musik eingespielt. Der Pirmasenser Jugendchor „Unisono“ singt die entsprechenden Nummern immer wieder durch – die Übergänge müssen stimmen. Dann die Stellprobe: Jedes gottesdienstliche Element wird einzeln durchgespielt, die genauen Positionen jedes Sprechers werden per Klebeband am Boden markiert, jedes Detail ganz genau unter Anleitung eines Videoredakteurs geklärt. Am Ende folgt die Durchlaufprobe, in der der gesamte Gottesdienst noch einmal abgespult wird.
Liveübertragung gelingt
Am Sonntagmorgen ist es dann so weit; die Johanneskirche ist brechend voll. Insgesamt drei Kamerateams haben sich in dem schmalen Kirchenschiff zwischen den Stuhlreihen ihre Schneisen geschlagen. Nun muss alles auf Anhieb funktionieren – und das tut es, die Proben haben sich gelohnt, die Abläufe klappen. Fetzige und eher traditionelle Musik wechseln sich ab; ein Jugendlicher liest Facebook-Kommentare über Primasens vor, die die Probleme der Stadt veranschaulichen. Dieners Predigt spricht dagegen von der Hoffnung, die sich mit „Gebet und Spucke“ erreichen lässt, auch im Hinblick auf die Geschehnisse in Halle. Zahlreiche liturgische Elemente finden Platz.
Eine Mitarbeiterin stellt die Arbeit der Kreativwerkstatt der Pirmasenser Stadtmission vor – diese bietet gerade Kindern aus sozial schwachen Haushalten die Gelegenheit, ihre Talente zu entdecken. Dieser Teil habe ihn besonders gefreut, sagt Diener später. Sicher auch professionell, immerhin gehören die Stadtmissionen zum Gnadauer Verband. In diesem Moment meint er aber wohl etwas anderes, ist doch auf eine weitere Weise das überspannende Thema dieses Gottesdienstes zur Geltung gekommen: Hoffnung. Eine Hoffnung, die sich gerade in unwahrscheinlichen Situationen Bahn bricht und von den Fernsehbildschirmen in die Wohnzimmer der Republik strahlt, gerade nach einem Ereignis wie in Halle. „Irgendwie war das alles dann doch Führung“, ist Dieners Resümee.
Der Fernsehgottesdienst aus Pirmasens kann unter zdf.de/gesellschaft/gottesdienste angesehen werden.
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