Heute am Buß- und Bettag geht es um ein altes, ungeliebtes Wort: „Sünde“. Das Wort ist im weltlichen Sprachgebrauch in den Bereich der Diät gerutscht (und zwar wenn man sie gerade nicht einhält, weil man gern mal wieder etwas genießen möchte, was auf dem Index steht). Im landeskirchlichen Sprachgebrauch hat sich eine Art Vermeidungstaktik eingebürgert: Wir wollen nicht mehr das Image haben, als Kirche der Gesellschaft ihre Sünden aufzuzählen.
Die Crux daran ist: Die Sache, um die es geht, wird damit unbenennbar. Und was unbenennbar geworden ist, damit kann man nicht umgehen, damit wird man nicht fertig. Ich finde das dramatisch, denn unsere Gesellschaft hat ein Sündenproblem. In sämtlichen aktuellen Aufregungsfeldern geht es um Sünde. Die junge „Fridays-for-Future“-Generation hält ihren Eltern und Großeltern gerade deren Sünden vor. Das schlechte Umweltgewissen bei Reisen und anderem fordert Kompensationen, die an den mittelalterlichen Ablasshandel erinnern. Ein falsches, unbedacht gesprochenes Wort kann heute eine Karriere ruinieren. Die „#MeToo“-Bewegung hat zu einem Bewusstsein möglicher sexueller Verfehlungen geführt, das wir derart global zuletzt in den Zeiten des Puritanismus hatten.
Überall, wo es um „das geht gar nicht“ geht, setzen wir uns mit dem Phänomen von Sünde auseinander. Und mit deren Konsequenz. Die besteht in aller Regel in einer Art gesellschaftlicher Exkommunikation. Rücktritt, Parteiausschluss, Ablösung, Karriereabbruch. Folglich geht der Streit heute meist darum, wer legitimiert ist, zu definieren, was illegitim ist („das geht gar nicht“) – darüber gehen die Meinungen zwischen Moralismus und Populismus bekanntlich diametral auseinander. An dieser Stelle ist der gesellschaftliche Konsens verloren gegangen. Und zwar weil die alle verbindende Instanz, der christliche Gott, in unserer postchristlichen Gesellschaft verloren gegangen ist. Die Folge dieses Verlustes ist, wie wir heute sehen können, keineswegs die Anwesenheit größerer Freiheit. Sondern die Abwesenheit von Vergebung.
Aus der Empörungskultur aussteigen
Unsere auseinanderdriftende Gesellschaft zelebriert aufs Schmerzhafteste die Realität von „Sünde“. Aber sie kennt keine Vergebung mehr. Es ist paradox: Durch Abkehr von den Geboten Gottes entrinnen wir der Sünde nicht; die taucht ganz sicher in anderem Gewand wieder auf. Aber wir verlieren durch diese Abkehr die Möglichkeit einer gesichtswahrenden, heilenden Umkehr und Versöhnung. Denn der richtende Gott ist nach der Bibel zugleich der rettende Gott. Der richtende Mensch bestraft, ja vernichtet – nur so kann er seine eigene Deutungshoheit zementieren. Der richtende Gott aber lässt sich selbst am Kreuz von Golgatha vernichten und stirbt gegeißelt, entehrt, verspottet, ausgestoßen – für Sünder. Und er trägt seiner Kirche, der Gemeinschaft der mit ihm Versöhnten, diejenige Botschaft an alle Menschen auf, die Gegenstand des Buß- und Bettages ist, eine Bitte: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korinther 5,20).
„Unsere Gesellschaft zelebriert die Realität von ‚Sünde‘. Aber sie kennt keine Vergebung mehr.“
Der Buß- und Bettag, den wir als evangelische Christen heute feiern, hat nichts mit Selbstkasteiung zu tun. Er bildet eine Gegenkultur zu unserer heutigen Empörungskultur. Diese Gegenkultur will gelebt werden, und nur wenn wir Christen sie leben, wird das, was sie bedeutet, für uns als Einzelne und als Gemeinschaft der Glaubenden zugänglich: Es gibt die Möglichkeit der Umkehr, der Versöhnung, des Vergessens von Sünde („Eurer Sünde soll nicht mehr gedacht werden“) und der Erneuerung. Jeder Mensch macht Fehler. Wir brauchen uns dafür nicht zu rechtfertigen. Wir dürfen unsere Fehler annehmen, denn Jesus nimmt uns mit ihnen an. Wir können ihm Sünde bekennen, und er vergibt uns. Denn unsere Strafe hat er selbst getragen. Wir dürfen uns – uns selbst und uns untereinander – ansehen als Menschen, die neu gemacht wurden und die das dringend nötig haben, als Menschen, die von Vergebung leben. Und deshalb auch Vergebung geben.
Was am Buß- und Bettag verkündigt wird, fordert uns auf, aus der Empörungskultur auszusteigen. Denn diese ist selbst Sünde, sie ist das Resultat der Abkehr unserer Gesellschaft von Gott. Wir brauchen da nicht mitzumachen. Denn wir haben einen Gott, der vergibt. Ich wünsche uns als Christinnen und Christen in einer postchristlichen Kultur, dass wir uns diese heilende Botschaft am heutigen Buß- und Bettag aufs Neue zu eigen machen und sie leben – in unseren Kirchen und außerhalb.
Dr. Gerrit Hohage ist Pfarrer in der Evangelischen Bonhoeffergemeinde Hemsbach und Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro.