Antisemitisches Gedankengut ist in Deutschland verbreiteter als gedacht. Laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses (WJC) hegt jeder vierte Befragte antisemitische Gedanken. 41 Prozent der Befragten finden, dass Juden zu viel über den Holocaust redeten, 26 Prozent attestieren ihnen „zu viel Macht in der Weltpolitik“.
Fast jeder zweite behauptete, Juden verhielten sich loyaler zu Israel als zu Deutschland. Zwölf Prozent gaben an, Juden trügen die Verantwortung für die meisten Kriege auf der Welt. 22 Prozent sagen, Juden würden wegen ihres Verhaltens gehasst. Zwei von drei Befragten nehmen einen wachsenden Antisemitismus wahr und bringen ihn mit dem Erfolg rechtsextremer Parteien in Verbindung. An der Studie, die vor zweieinhalb Monaten durchgeführt wurde, nahmen 1.300 Befragte teil.
„Antisemitismus hat Krisenpunkt erreicht“
Der WJC ist eine Vereinigung, die jüdische Gemeinden und Organisationen in 100 Ländern vertritt. Präsident Ronald S. Lauder sagte der Süddeutschen Zeitung, dass der Antisemitismus in Deutschland einen Krisenpunkt erreicht habe. „Es ist an der Zeit, dass die gesamte deutsche Gesellschaft Position bezieht und Antisemitismus frontal bekämpft.“
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Lauder, dass das deutsch-jüdische Verhältnis immer kompliziert sein werde. Das Ausmaß des Antisemitismus sei lange unterschätzt worden. Bei den Ergebnissen frage er sich, ob Deutschland sich wirklich von seiner schweren Vergangenheit gelöst habe. Nur 75 Jahre nach dem Holocaust seien Juden wieder Ziel von Übergriffen.
„Vor allem Deutschland sollte sehr empfindsam sein“
Lauder sieht mehrere Faktoren für diese Ergebnisse. Es gebe einerseits den neonazistischen Antisemitismus, der „den Juden“ für alles verantwortlich mache, andererseits einen radikalen muslimischen Antizionismus. Zudem trage mangelnde Bildung zum alarmierenden Anstieg bei: „Wenn es ein Land auf der Erde gibt, das extrem empfindsam sein sollte, wenn es um Antisemitismus geht, dann ist das Deutschland.“
Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sei das mangelnde Bewusstsein und das Versäumnis, jüdische Mitbürger effektiv zu schützen, inakzeptabel. Lauder fordert eine „engagierte Kampagne zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland“. Diese müsse das Thema Bildung und die stärkere Vernetzung zwischen den Repräsentanten jüdischer Organisationen im Blick haben. Darüber hinaus müsse die Sicherheit vor Synagogen und jüdischen Einrichtung verbessert werden. Das Strafmaß für antisemitische Straftaten und andere Hassverbrechen sei zu niedrig. Alle Parteien sollten Antisemitismus aus ihrem Innenleben konsequent entfernen.
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, äußert sich besorgt zu den Ergebnissen der Studie. Er beklagt einen „neuen Höhepunkt“ des Antisemitismus. Es habe ihn in bürgerlichen Kreisen schon immer gegeben, aber die Hemmschwelle sei gesunken. „Doch heute äußern sich die Menschen offener“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Auch in der politischen Kultur sei der Umgang rauer geworden, sagte Klein. Staat und Gesellschaft müssten dem entgegenwirken und Gerichte Antisemitismus stärker ahnden.
Alarmierend, erschütternd, aber nicht überraschend
Der Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Konstantin von Notz, nannte die Ergebnisse „erschütternd“, aber auch nicht überraschend. Der Antisemitismus reiche bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Sein FDP-Kollege Stefan Ruppert nannte es „alarmierend, dass der Studie zufolge antisemitisches Gedankengut in wachsenden Teilen unserer Gesellschaft Zustimmung findet“. Er wünsche sich ein entschlossenes Handel der Regierung, um die Entwicklungen zu bekämpfen. Das meldet Spiegel Online.
Am 9. Oktober hatte der mutmaßliche Täter Stephan Balliet versucht, gewaltsam und bewaffnet in die Synagoge in Halle/Saale einzudringen. Mit diesem Plan scheiterte er. Anschließend tötete er zunächst vor der Synagoge eine Passantin und wenig später den Gast eines Döner-Imbisses. Auf seiner Flucht verletzte er zudem zwei Personen durch Schüsse. Zwei Streifenbeamte konnten ihn schließlich festnehmen.
Von: Johannes Blöcher-Weil