Ob Bernd Lucke je wieder regulär an der Universität Hamburg arbeiten können wird, ist dieser Tage fraglich. Anderthalb Stunden lang brüllten Studierende den Ökonomieprofessor am Mittwoch nieder. Jeder Versuch Luckes, sich zu erklären, wurde Medienberichten zufolge von „Nazischwein“-Rufen und Aufforderungen, den Saal zu verlassen, erstickt. Und das, obwohl Lucke sich über die gesamte Vorlesungszeit hinweg dem Protest gegen sich aussetzte. Sogar dann, als es handgreiflich wurde. Als die Polizei Lucke anschließend auf eigenen Wunsch vom Universitätsgelände geleitete, ging er als einer, der auch zeigen wollte: Ich bin kein Nazi. Die tobende Menge hatte ihn nicht nur an der Vorlesung gehindert, sondern auch daran.
So führen die Studierenden ihre eigene Forderung ad absurdum. Der Asta hat im Nachhinein zwar erklärt, die Proteste im Hörsaal nicht initiiert zu haben, stellte aber in einem Schreiben fest, woran es Lucke bei der Aufarbeitung seiner eigenen AfD-Vergangenheit gemangelt habe. Mehr Verantwortung hätte er dafür übernehmen sollen, dass er 2013 mit der Gründung der AfD den Anstoß für eine wahrlich unschöne Entwicklung in der deutschen Parteienlandschaft gab: das Erstarken der neuen Rechten in Landesparlamenten und im Deutschen Bundestag. „Verantwortung hätte sein können, dem Schaden an der eigenen Macht zum Trotz auszutreten, solang er noch Vorsitzender war, und das rechte Problem der AfD aus einer Position der Stärke zu benennen“, argumentiert der Asta. Und weiter: „Verantwortung hätte auch sein können, dem Schaden am eigenen Ruf zum Trotz in der Partei zu bleiben und intern daran zu arbeiten, die rechten Umtriebe wieder kleinzukriegen, von innen heraus von der Wahl der AfD abzuraten, solang sie in diesem Zustand ist, und sich notfalls rauswerfen zu lassen.“
Lucke ging aus Überzeugung
Wer diese Zeilen liest, hat schnell das Gefühl: Bei aller Schuld, die Lucke sicherlich auch am Erstarken eines Björn Höcke oder eines Andreas Kalbitz zuzurechnen ist – recht machen können hätte er es den Studierenden von heute ohnehin nicht. Denn ausgetreten ist Lucke – zu einem Zeitpunkt, als er offensichtlich innerparteilich entmachtet und damit jeder intern-oppositionellen Macht beraubt worden war. Tut es da Not, die Partei durch die eigene Anwesenheit so lange zu stärken, bis sie sich einem selbst gewaltsam entledigt? Keinesfalls, es hätte nur diejenigen weiterhin zur Wahl der Partei animiert, die auch 2015 noch die Augen vor dem Aufstreben der radikalen Rechten verschlossen hielten. Derer gibt es übrigens noch heute viele.
In der Tat argumentierte Lucke in seiner Austrittserklärung streng genommen im Sinne des Asta: In der AfD sehe er keine Chance mehr, seine ursprünglichen politischen Ziele durchzusetzen, „ohne gleichzeitig als bürgerliches Aushängeschild für politische Vorstellungen missbraucht zu werden, die ich aus tiefer Überzeugung ablehne“, erklärte er damals. Und weiter: „Dazu zählen insbesondere islamfeindliche und ausländerfeindliche Ansichten, die sich in der Partei teils offen, teils latent, immer stärker ausbreiten und die ursprüngliche liberale und weltoffene Ausrichtung der AfD in ihr Gegenteil verkehren.“ Man darf wohl annehmen, dass der Asta und die im Hörsaal laut „Nazischwein“ rufenden Demonstranten das öffentliche Schreiben nicht gelesen haben.
„Ein Kind, das von Räubern großgezogen wurde“
Ebensowenig werden sie Luckes geradezu gebetsmühlenartig wiederholten Distanzierungen von der AfD gehört haben, die er nicht nur in einem Buch aufgeschrieben, sondern auch wieder und wieder öffentlich bekundet hat, zuletzt im April 2019: „Wenn ich heute auf die AfD schaue, fühle ich mich wie ein Vater, dem das Kind genommen wurde, um es unter Räubern großzuziehen.“ Die Partei sei heute anders als im Gründungsprogramm vorgesehen eine deutschnationale, migrations- und islamfeindliche Partei. Er selbst könne sie aus christlicher Überzeugung nicht wählen. Rechtes Gedankengut wuchere in ihr wie ein Krebsgeschwür.
Die Universität Hamburg hat sich am Mittwoch zu den Vorfällen im hauseigenen Hörsaal zu Wort gemeldet. Halbherzig betonte sie die Freiheit der Wissenschaft. „Unabhängig davon ist festzustellen, dass Universitäten als Orte der Wissenschaft die diskursive Auseinandersetzung auch über kontroverse gesellschaftliche Sachverhalte und Positionen führen und aushalten müssen – insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte“, hieß es weiter. Der letzte Satz ist durch den Verweis auf den Nationalsozialismus durchaus als Verständniserklärung für die Proteste zu lesen. Dabei übersieht die Universitätsleitung: Eine einer Lehreinrichtung angemessene Auseinandersetzung zu führen, sieht anders aus als das, was sich dieser Tage auf dem Campus abgespielt hat. Debatte bedeutet, beiden Seiten das Wort zu erteilen. Dürften Studierende nicht mehr protestieren, beraubte man sie Teilen ihrer DNA, dennoch muss es auch ihnen zugemutet werden, die Position des Gegenübers zu hören und sich mindestens mit den Hergängen rund um die AfD zwischen 2013 und 2015 zu beschäftigen. Insofern ist es lobenswert, dass sich Asta und Lucke in den kommenden Tagen treffen wollen.
Viel Schuld, kaum Sühne, keine Gnade
Hätte Lucke mehr tun können, um sich vom in seiner Schöpfung um sich greifenden rechten Gedankengut zu distanzieren? Sicher. Dem bekennenden Protestanten hätte Sühne gut zu Gesicht gestanden. Bis zuletzt betonte er, keine Mitschuld an jenem Unheil zu tragen, das die AfD in der Bundesrepulik heute mitverantwortet, von antisemitischen Anschlägen über das Aufstreben von Verschwörungstheorien bis hin zu einem Sittenverfall im Reichstagsgebäude. Das ist aber nicht zu verwechseln mit einem Mangel an Distanz zur AfD seitens Lucke. Denn diese hat er seit damals bemüht aufzubauen, wie wenige andere Ausgetretene.
Wenn wir aber schon bei biblischen Begriffen sind: Wo es dem einen an Schuldbewusstsein fehlt, lässt die Gegenseite Gnade vermissen. Letzteres bedeutet nicht, die Gründung der AfD gut zu heißen. Aber sie sollte es einem, der Fehler gemacht hat und sich um Schadensbegrenzung bemüht, zugestehen, seinen normalen Beruf nach dem politischen Scheitern wieder aufzunehmen – gerne unter der kritischen Beobachtung, die das universitäre Umfeld immer schon ausgezeichnet hat. Aber ohne Gewalt, Beschimpfungen und Polizeischutz.