Vorab: Ja, Carsten Rentzing hat als junger Student sehr problematische Texte geschrieben, da brauchen wir nicht drumherum zu reden. Sie gehören in das Gedankenspektrum der „Neuen Rechten“ und werden heute ähnlichlautend von der AfD politisch vertreten. Es ist nur schwer denkbar, dass er nach deren Bekanntwerden noch das liberale Spektrum seiner Landeskirche hätte glaubwürdig repräsentieren können.
Und doch ist sein Rückzug, so unvermeidlich wie er wohl war, für die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland ein schweres Unglück, und ich frage mich, ob es nicht doch gute Gründe gegeben hätte, mit dieser Affäre anders umzugehen, gerade weil sie sich in Sachsen ereignet. Ich möchte darlegen, wo diese liegen könnten, und ich beginne bei meiner eigenen Studienzeit.
Die „Wende“ 1989 und die Meinungsfreiheit
Ich habe damals zur gleichen Zeit wie er studiert und die Wende miterlebt. Wir haben gefeiert. Und dann die neuen Mitstudierenden aus dem „Osten“ willkommen geheißen. Man hat sich beschnuppert – vorsichtig, von beiden Seiten. Die Neuen mussten erst einmal herauskriegen: Was „darf“ man hier sagen? Hört wirklich keine Stasi zu? Ich erinnere mich an einen Mitstudenten, der mir sagte, wie schrecklich laut er es hier im Westen findet. Und wie fremd. Der abgeschottete Osten unseres Landes traf auf die multikulturelle Gesellschaft im Westen, die drei Generationen lang Zeit gehabt hatte, ihre Vorbehalte gegenüber Fremden zu überwinden. Von den „Ossis“ verlangte man das von einem Tag auf den anderen.
Ich weiß noch die Diskussionen damals: Sollen die neuen Länder wirklich der Bundesrepublik „beitreten“ – oder nicht doch erst mal einen eigenen Staat machen, um auch einen eigenen Weg in die Demokratie hinein zu finden? Ist denn da wirklich alles perfekt im Westen, oder gibt es nicht auch Fehler, die man vermeiden sollte? Darüber hat man sich quer durch alle politischen Lager Gedanken gemacht, und wie wenig diese Debatten „ausgestanden“ sind, wird schnell klar, wenn man heute die AfD in den neuen Bundesländern betrachtet.
Man durfte es sagen, ohne dass eine Stasi mithörte – das war Demokratie.
Viele Menschen nutzten in der Nachwendezeit die neugewonnene Meinungsfreiheit, um mit solchen Gedanken spielen, sich an diesen Debatten beteiligen zu können und auf diese Weise die neue Demokratie zu leben – ein Vertrauensbeweis! Das ist die Zeit, in der die Studentenzeitschrift „Fragmente“ drei Jahre vor sich hin waberte – mit einer Auflage von 100 Exemplaren sicher kein Multiplikationsmedium. Die Artikel sind von dem Gedanken der „konservativen Revolution“ geprägt; wertkonservative, neurechte und deutschnationale Artikel stehen direkt nebeneinander. Vieles davon ist nach meiner persönlichen Meinung ganz großer Mist, aber man durfte es sagen, ohne dass eine Stasi mithörte – das war Demokratie.
Von hierher betrachtet wird klar, wie unglücklich die Art und Weise ist, wie jetzt mit diesen Texten umgegangen worden ist, gerade weil es sich um Sachsen handelt. Für diejenigen Mitchristinnen und Mitchristen, die Rentzing als Bischof gut fanden, geht davon ein Signal aus: „Die ‚Freiheit‘ von damals war offensichtlich ein Fake, und das haben wir im Grunde immer befürchtet. Wir sind wieder so weit, dass Denunzianten in Archiven belastendes Material suchen, um jemanden von Leitungsämtern zu entfernen.“ Es ist wichtig, dass wir die innere Logik dieses Signals von seiner Historie aus verstehen – denn man kann an diesem Beispiel eines der Geheimnisse für die Stärke der AfD in den östlichen Bundesländern lüften. Und vor dem Verändern kommt nun mal das Verstehen.
Nicht verharmlosen, nicht übertreiben
Ein zweites: Rentzings Texte, die er als junger Student schrieb, sind (logischerweise) weit entfernt von einer reflektierten Position, wie sie von einem Bischof erwartet wird. Er positioniert sich als theologisch Konservativer gegenüber der Aufklärung (das ist in der Kirche eine altbekannte Diskussion), als politisch Rechtskonservativer gegenüber der politischen Linken. Seine Kritik an der „multikulturellen Gesellschaft“ trägt deutschnationale Züge. Das ist für jemanden, der noch dazu im Westen aufgewachsen ist, äußerst peinlich – ihm selbst heute offenbar am meisten – aber man muss doch bei aller Verstörtheit die Kirche im Dorf lassen und bei den Fakten bleiben.
Der tagesschau.de-Redakteur Arnd Henze titelte: „Bischof verschweigt rechtsextreme Texte“. Rechtsextreme Texte fallen dadurch auf, dass sie Gewaltbegrifflichkeiten, Ausgrenzungsforderungen, Siegphantasien oder herabwürdigende Formulierungen sowie bestimmte Codes verwenden, und nichts davon ist in Rentzings Texten zu finden. Diese Schlagzeile übertreibt den vorliegenden Sachverhalt in unverantwortlicher Weise und ist nichts anderes als Fake News. Es gibt auch einen „Extremismus der Mitte“, der alles verdächtigt, was sich jenseits etablierter Narrative und Formulierungen artikuliert. Ich halte diesen „Extremismus der Mitte“, wie ihn Henze in meinen Augen vorgeführt hat, im Ergebnis für ebenso demokratiegefährdend wie die Extremismen an den Rändern, die er stärkt.
Würde die Demokratie ihre Selbstinfragestellung verbieten, wäre sie keine mehr.
Wie kam diese Übertreibung zustande? Das hat nach meiner Vermutung etwas mit der empörungsmüden Gesellschaft zu tun, der man immer Grelleres bieten muss, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Gefahr darin: Je unkenntlicher (Rechts-)Konservatives und Rechtsextremes miteinander vermischt werden – übrigens genau die Agenda von AfD-Mann Björn Höcke –, desto schwieriger wird es, innerhalb dessen, was Demokratie als Teil ihrer selbst aushalten muss und kann, Leute wie den Attentäter von Halle herauszufiltern, die eine echte Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen.
Auch Demokratiekritik (wie sie jüngst auch von „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ zu vernehmen ist) ist nicht an sich antidemokratisch, sondern sie ist selbst Teil der Demokratie – das macht ja gerade ihre Leistungsfähigkeit aus! Würde die Demokratie ihre Selbstinfragestellung verbieten, wäre sie keine mehr. Antidemokratisch ist, wenn jemand das gesamte demokratische System als solches ablehnt. Das aber hat auch der junge Student Carsten Rentzing nicht getan. Man tut unserer Gesellschaft genauso wenig einen Gefallen, wenn man die Dinge übertreibt, wie wenn man sie verharmlost.
Was die große Chance gewesen wäre
Ein Drittes: Die Episode dieser Äußerungen endet 1992 abrupt. Seit der Einstellung der „Fragmente“ hat man von Rentzing nie mehr Inhalte dieser Art gehört oder gelesen. Er hat nach eigenen Worten im Lauf seines Lebens eine Entwicklung durchgemacht, in deren Folge er vieles, was er damals schrieb, nicht mehr vertritt. Es wäre doch interessant gewesen, zu erfahren, warum er das heute nicht mehr vertritt, das heißt, wie Jesus Christus in den Lebensjahren nach seiner Glaubensentscheidung 1989 sein Leben mehr und mehr verändert und geprägt hat.
Das hätte ihn zu einem höchst glaubwürdigen Dialogpartner der Evangelischen Kirche gegenüber der AfD gemacht, die sie mit all ihren „klaren Kanten gegen rechts“ bekanntlich in keiner Weise mehr erreicht (und darum kann sie hier auch nichts bewegen). Sie hat mit Rentzing ihren einzigen Repräsentanten verloren, der zu einem solchen Dialog überhaupt in der Lage gewesen wäre – weil er nachgewiesenermaßen beide Seiten versteht. Darin hätte das Potenzial zu einer vermittelnden gesellschaftlichen Friedensarbeit gelegen, die uns als Volkskirche sehr gut zu Gesicht stehen würde.
Diese setzt aber eine wahrnehmbare politische Diversität ihrer Repräsentanten voraus. Hier sehen beide Seiten schlecht aus: Rentzings Kritiker, die seit Jahren seine Demission betrieben, und Rentzing selbst, der ins Schweigen fiel, als intensive (Krisen-)Kommunikation erforderlich gewesen wäre.
Überfordern wir unsere Repräsentanten?
Ein Letztes: Warum schwieg Rentzing? Die vielzitierte Petition des Leipziger Studentenpfarrers Frank Paul Martin fordert von ihm nicht, dass er geht, sondern dass er sich erklärt. In einem Zeitungsbericht moniert ein weiterer Kollege, dass Rentzing nie das Gespräch mit seinen Kritikern gesucht habe. Wie oft habe ich das von konservativer Seite gehört und selbst beklagt, dass Bischöfe nicht auf ihre Kritiker zugehen!
Dieser Punkt macht mich am meisten nachdenklich: Vielleicht ist das, was wir in der Kirche von unseren Leitern und Repräsentanten erwarten, schlicht eine menschliche Überforderung? Denn: Irgendwann kann der Mensch nicht mehr. Das ist so! Es gibt beim besten Willen eine Grenze, bis zu der man sich persönlicher Kritik stellen kann, und dann kann man nicht mehr. Zumal die Kirche ganz andere Persönlichkeitstypen hervorbringt als zum Beispiel die Politik – sensitiver, aber auch mit weniger (Aus-)Sitzfleisch.
Vielleicht ist das etwas, wo wir als Kirche uns wieder etwas mehr von der „Welt“ unterscheiden könnten: Dass wir Barmherzigkeit üben an unseren Bischöfen und Repräsentanten – unabhängig von ihrer Glaubensrichtung? Das wird auch wichtig, wenn in Sachsen ein Nachfolger gefunden werden muss – dem zu wünschen ist, dass er die Vermittlungsarbeit zwischen den Lagern, die Rentzings Anliegen gewesen ist, weiterführen kann.
Dr. Gerrit Hohage ist Pfarrer in der Evangelischen Bonhoeffergemeinde Hemsbach und Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro.