Jedes Jahr, wenn die Evangelische Kirche und die katholische Bischofskonferenz ihre Mitgliedszahlen veröffentlichen, beinhalten diese Hiobsbotschaften für die Institutionen. Seit vielen Jahren verzeichnen die Volkskirchen hohe Austrittszahlen. Um dagegen vorzugehen und Ideen für eine Mitgliederbindung zu entwickeln, kommen derzeit Kirchenvertreter und Ehrenamtliche unter dem Motto „Der Paulus Code – Mitgliederorientierung heute“ zu einem ökumenischen Netzwerktreffen in der Evangelischen Akademie Hofgeismar zusammen.
Bischof Michael Gerber vom Bistum Fulda erläuterte zum Auftakt der Veranstaltung vier Punkte, die bei der Frage, wie Menschen zur Kirche finden, besonders relevant sind. Es gehe zum einen darum, andere anzunehmen. In Anlehnung an den Bibelvers „Geht hin und macht alle Nationen zu Jüngern“ (Matthäus 28,19) sagte der Geistliche: „Geht hin in alle Kulturen und bringt sie mit dem Evangelium in Verbindung.“ Es gehe darum, „zu begreifen, wie Menschen heute unterwegs sind“ und die Kultur anzunehmen, wie sie ist. Es gebe gesellschaftliche Trends und kirchliche Faktoren. Wichtig beim Umgang mit der Frage der Mitgliederorientierung sei eine „ehrliche Rechenschaft“.
Als zweites führte der katholische Bischof das Stichwort „Redlichkeit“ an. Die Katholische Kirche, aber auch die Evangelische Kirche, hätten jeweils ihre „Hausaufgaben“. Mit dem Blick auf den Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche betonte Gerber: „Das Ziel darf nicht sein, dass wir dann als Kirche gut dastehen, wenn wir unsere Hausaufgaben gemacht haben“. Die Frage müsse stattdessen sein: „Was tun wir, um diesen Menschen zu helfen?“ Wichtig sei auch, der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen und einen guten Stil des Dialoges vorzuleben.
Kirche muss in existenziellen Situationen präsent sein
Des Weiteren ging es Gerber um Ergriffenheit und er stellte die Frage: Was ist die Grunddynamik hinter dem Wunsch, dass Menschen zum Evangelium und zur Kirche finden? Dies solle nicht nur der Durchhaltewille bis zur Rente sein. Er fragte sinngemäß: Wovon bin ich ergriffen und woran mache ich das fest? „Ich bin beschenkt und ich gebe etwas weiter.“
In seinem vierten Punkt fragte der Bischof nach der Relevanz der Kirche: Wo erleben Menschen Kirche als relevant oder nicht? Wo gerät ein Mensch in existenzielle Situationen? Da müsse Kirche präsent sein.
„Wenn Kirche nicht den Mut zum Atmen hat, wird sie irgendwann ersticken“
Tobias Faix, Professor an der CVJM-Hochschule in Kassel, sprach während eines Panels über Mitgliederorientierung aus der Beziehungsperspektive. Er erklärte, dass viele Forscher die aktuelle Situation als Zeit eines „Paradigmenwechsels“ begriffen. Laut dem Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, der diesen Begriff prägte, ist ein Paradigmenwechsel im übertragenen Sinn ein „Sturm, der das Leben verändert“.
Faix erklärte den Status der Kirche mit einem Bild: Die Kirche hat gute Brücken gebaut, aber die Gesellschaft und die Menschen haben sich verändert. Nach diesem Sturm – dem Paradigmenwechsel – sei die Brücke verrückt und führe nicht mehr über einen Fluss, sondern stehe – zwar noch intakt –, aber auf einem trockenen Gebiet. Diese Brücke „beantwortet nicht mehr die Fragen der Menschen“. Faix fragte: „Wo brauchen wir neue Brücken?“ Weiter betonte er: „Ein Grundproblem ist: Die Leute verstehen nicht mehr, was wir sagen.“ Er ermutigte, neue Wege zu gehen und besondere Konzepte auszuprobieren: „Wenn Kirche nicht den Mut zum Atmen hat, wird sie irgendwann ersticken.“
Der Autor thematisierte eine weitere Entwicklung, die er im Rahmen einer Studie festgestellt habe: „Im evangelischen Bereich steigt die Anzahl der Gläubigen, die aufgrund ihres Glaubens aus der Kirche austreten.“ Auch hier gelte es, sich der Frage zu stellen: „Wie geht man damit um?“ Er sei zunächst davon ausgegangen, dass es sich dabei um „einzelne, fundamentalistisch geprägte Personen“ handele, aber es seien viele „Wert-Konservative“ dabei. Das habe ihn überrascht. Das „Schlimme“ daran sei, „dass dies oft sehr engagierte Menschen sind und sie sozusagen an ihrer Kirche leiden und dann austreten“.
„Für Männer ist ein Kirchenaustritt attraktiver“
Einen Einblick in die erste ökumenische Mitgliedervorausberechnung für Deutschland, die Anfang Mai Schlagzeilen machte, gaben Fabian Peters und David Gutmann von der Universität Freiburg. Die Nachrichten dazu lauteten damals: Bis 2060 halbieren sich die Kirchenmitgliederzahlen. Daraus ging hervor, dass aus der Evangelischen Kirche zahlenmäßig mehr Menschen als aus der Katholischen Kirche austreten, aber gleichzeitig werden auch mehr Personen Mitglied in den evangelischen Landeskirchen als bei den Katholiken. In den städtisch geprägten Kirchen ist der Austritt höher als in ländlicheren Gebieten. In Regionen, in denen die Kirche strukturstark ist, seien die Austritte zudem geringer.
Es gebe eine höhere Austrittswahrscheinlichkeit bei einem bestimmten Teil der Bevölkerung: „Männer verlassen unsere Kirchen häufiger, beziehungsweise für Männer ist ein Kirchenaustritt attraktiver“, erklärte Peters. Einen weiteren Aspekt hoben die Wissenschaftler hervor: 26 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen, die getauft wurden, verlassen bis zum 31. Lebensjahr die Kirche. Zudem mache „irgendetwas zwischen 14 und 28 Jahren den Kirchenaustritt besonders anziehend. Und was machen wir? Wir schicken ihnen einen Kirchensteuerbescheid zu“. Peters erklärte, dass die Kirchen abwägen sollen, was für sie wichtig ist und dass sie nach engagierten Ideen für eine Kirchbindung suchen müssen: „Es liegt nicht nur in Gottes Hand.“
„Raumschiff.Ruhr“: Mach, was dir guttut
Pfarrerin Hanna Jacobs aus Essen stellte das Gemeindepionierprojekt „Raumschiff.Ruhr“ vor. In einer alten Kirche bietet es Platz für unterschiedliche Möglichkeiten: „Wir wollen Raum eröffnen, um ihn gemeinsam zu gestalten.“ Zielgruppe sind alle jungen Erwachsenen ab dem Ende der Schulzeit bis hin zur Familiengründung. Es gehe darum, zu fragen, was die Menschen brauchen, die ins Raumschiff kommen.
Es wird zusammen gekocht, neu ist ein Co-Working-Space und die Gottesdienste heißen „Glanzpunkte“: Lieder und Gebete wie das „Vater unser“ müssen nicht mitgesungen beziehungsweise mitgesprochen werden. „Es ist sehr voraussetzungsarm. Es fällt nicht auf, wenn man nicht kirchlich geprägt ist. Damit gibt es eine geringe Hemmschwelle.“ Das Motto lautet: „Tue, was dir guttut, du bist für dich verantwortlich.“ Diese Art der Begegnung trage Frucht: „Die Menschen nehmen Kirche als freundlichen Ort wahr, an dem sie bekommen, was sie brauchen.“
Im Rahmen der Tagung vom Veranstalter „Ökumenisches Netzwerk Mitgliederorientierung“ diskutieren die Teilnehmer miteinander und üben auch Kritik an zu wenig Veränderung. Ein Diskutant sprach davon, dass stets viel besprochen und erhoben, aber dann nicht umgesetzt werde. Er nannte dies: „Paralyse durch Analyse“. Ein anderer Teilnehmer, der schon seit Jahrzehnten in der Katholischen Kirche aktiv ist und negative Erfahrung bei der Umsetzung von Projekten gemacht hat, fragte: „Müssen wir erst der Kirche den Stecker ziehen, damit wir dann einen Reset-Knopf drücken?“
Die Veranstaltung läuft noch bis zum Mittwoch in der Evangelischen Akademie im nordhessischen Hofgeismar. Es ist das zweite Treffen des Netzwerks. Knapp 90 Personen nehmen daran teil.
Wenn Sie mehr darüber lesen wollen, was Kirche tun kann, um wieder attraktiver für Menschen zu werden sowie über weitere spannende Projekte, bestellen Sie das Christliche Medienmagazin pro. In der Titelgeschichte der Ausgabe 5/19 beschäftigen wir uns mit diesem Thema. Die Zeitschrift ist kostenlos hier oder telefonisch (06441/566 77 00) erhältlich.
Von: Martina Blatt