pro: Herr Schneider, hat Sie die damalige Anfrage für den Vorsitz der Ethik-Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) überrascht?
Nikolaus Schneider: Zunächst muss ich ein Missverständnis aufklären: Der Deutsche Fußball-Bund hat mich nicht für den Vorsitz angefragt, sondern ob ich prinzipiell mitarbeiten wollte. Ich wusste bis dahin nicht, dass der DFB eine solche Kommission plant. Es hat mich überrascht, dass mein Name in DFB-Kreisen bekannt war und ich dort mitarbeiten sollte. Vorsitzender wurde der frühere Außenminister Klaus Kinkel. Nach seinem Tod Anfang dieses Jahres wurde ich als nach Lebensjahren ältestes Mitglied der Kommission gebeten, kommissarisch den Vorsitz zu übernehmen.
Wie kann sich ein Laie die Arbeit des Gremiums vorstellen?
Bei uns melden sich Einzelpersonen oder Gruppen, die sich falsch oder ungerecht behandelt fühlen. Manchmal sind dies auch Organe des DFB. Schließlich greifen Kommissionsmitglieder Probleme oder Missstände auf, auf die sie etwa durch Presseveröffentlichungen aufmerksam werden.
Wie läuft eine Sitzung ab?
Die Tagesordnung der Kommission wird vom Vorsitzenden und einem Mitarbeiter der Ethik-Kommission inhaltlich vorbereitet. Die Verwaltung des DFB arbeitet uns zu. Die Mitarbeiter der Zentrale erstellen auf Anfrage Stellungnahmen oder stehen persönlich Rede und Antwort. Der Chef-Justitiar des DFB begleitet die Arbeit der Kommission. Wir tagen vier- bis fünfmal im Jahr. Zwischen den Sitzungen gibt es Telefonkonferenzen. Die unabhängige Kommission hat nur fünf Mitglieder. So können wir intensiv und vertrauensvoll zusammenarbeiten.
Was sind die Grundpfeiler für Ihre Entscheidungen?
Inhaltlich bezieht sich die Kommission auf das Regelwerk des DFB. Dazu gehört auch der Ethik-Kodex. Die ethischen Oberbegriffe sind „Integrität des Fußballs“ und „Reputation des DFB“, die durch Rassismus und Diskriminierung, aber auch durch Gewalt verletzt werden. Wir beschäftigen uns mit Einzelentscheidungen des DFB und korrigieren sie eventuell. Wir wollen uns aber auch damit beschäftigen, welche strukturellen Verbesserungen wir empfehlen können, um in Zukunft unethisches Verhalten des DFB zu verhindern. Letzteres entwickelte sich zu einem Schwerpunkt der bisherigen Interventionen der Kommission. In der Regel haben wir offene Ohren beim DFB gefunden.
Der Aufsichtsratsvorsitzende von Schalke 04, Clemens Tönnies, hat sich in einer Rede in Paderborn rassistisch über Dunkelhäutige geäußert. Wie sind Sie konkret in der „Causa Tönnies“ vorgegangen?
Um die „Causa Tönnies“ zu bewerten, haben wir zunächst die Unterlagen angefordert: das Transkript eines Mitschnitts der Veranstaltung in Paderborn mit den fraglichen Aussagen, den Beschluss des Schalke-04-Ehrenrates, das Protokoll der Beratungen sowie die Presseerklärungen des Ehrenrates und von Herrn Tönnies. Außerdem haben wir die Berichterstattung ausführlich studiert. Die Kommission hat eine knappe Stunde lang ein offenes, klares und hartes Gespräch mit Clemens Tönnies geführt. Daran haben sich alle Mitglieder der Kommission beteiligt. Danach gab es ein ausführliches Gespräch mit Herrn Asamoah (Anm. d. Red.: Der frühere deutsche Fußballnationalspieler und Ex-Schalke-Profi Gerald Asamoah hat Schalkes Aufsichtsratschef Clemens Tönnies nach dessen umstrittenen Aussagen scharf kritisiert.), um weitere Hintergrundfragen zu klären. Schließlich hat die Kommission Herrn Tönnies gebeten, eine schriftliche Aufstellung seines entwicklungs- und sozialpolitischen Engagements vorzulegen. Das hat er gemacht. Wir haben alles ausführlich abgewogen. Aufgrund der persönlichen Eindrücke ist die Kommission zu ihrem Beschluss gekommen: Die betreffende Äußerung ist ein rassistischer Satz, aber Herr Tönnies ist kein Rassist.
Wie kann man nach solchen Aussagen einer Ethikkommission vermitteln, nicht rassistisch zu sein?
Die Kommission hat sich davon überzeugt, dass Herr Tönnies sich vorher nie rassistisch geäußert hat. Sie ist ebenso überzeugt, dass es in Zukunft einen solchen Satz von ihm nicht geben wird. Sein Erschrecken über sich selbst und seine tätige Reue haben die Kommission überzeugt. Dies ist auf dem Hintergrund eines ethischen Grundsatzes zu verstehen: Es ist immer zwischen der Person eines Menschen und seinen Worten und Taten zu unterscheiden, auch wenn Person, Wort und Tat nicht getrennt werden können. Rassistische Sätze müssen klar abgelehnt werden. Personen können sich ändern, können zurechtgebracht werden oder sich selbst zurechtbringen. Es war am Ende eine Abwägung, ob über die klare und öffentliche Missbilligung hinaus weitere Sanktionen nötig sind. Die Kommission war der Meinung, durch den Verzicht auf weitere Sanktionen der Kampagne des DFB gegen Rassismus am besten zu dienen. Herr Tönnies hat Kontakt zum Integrationsbeauftragten des Deutschen Fußball-Bundes Cacau aufgenommen.
Was hat Sie als Kommission überzeugt?
Die Gespräche mit Herrn Tönnies und Herrn Asamoah, die von Herrn Tönnies erstellte Liste und seine tätige Reue.
Besteht die Gefahr, dass Rassisten mit ihren Aussagen „durchkommen“, wenn sie schlussendlich sich nur überzeugend davon wieder distanzieren können?
Wenn Rassisten dies gelingt, besteht diese Gefahr. Aber Herr Tönnies ist nach sorgfältiger Recherche und Abwägung der Kommission eben kein Rassist.
Was hat dieser Vorfall für die Zukunft und Ihre künftige Arbeit für Folgen?
Die Kommission wird weiterhin darauf bedacht sein, sorgfältig und fair zu arbeiten, in der Sache hart und deutlich, den Menschen gegenüber klar und mit dem Interesse, ihnen als Person gerecht zu werden. Auf Rassismus wird die Kommission ein besonderes Augenmerk richten. Der Anti-Rassismus-Beauftrage des DFB, Cacau, kann mit unserer Unterstützung rechnen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen von Johannes Blöcher-Weil hat Nikolaus Schneider schriftlich beantwortet.