„Der Hebräerbrief ist für mich eine Mischung aus Trost und Arschtritt“, sagt die Pastorin Sandra Bils in ihrer Predigt vor 32.000 Menschen im Signal-Iduna-Park am Sonntag. Es ist der Abschlussgottesdienst des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Dortmund. Bils spricht über das erschütterte Vertrauen der heutigen Gesellschaft in die Institution Kirche – und darüber, wie sie selbst vor allem in ihren schwachen Momenten des Lebens Gottes Vertrauen braucht. „Das ist die Verheißung, das ist Gottes Vorschuss-Vertrauen. Ich schenke dir was, einfach, weil ich dich gern habe, so wie du bist: Gnade.“
Der Hebräerbrief (Hebräer 10,35–36) schildere eine Gemeinde, aus der die Luft raus sei. „Gemeindeversammlungen schrumpfen, viele sind bei einem Kinderglauben stehen geblieben, der nicht taugt“, zählt sie auf. „Wenn ich in mich reinhorche, ist auch mir vieles in der Kirche fremd. Manchmal gehe ich traurig aus Gottesdiensten, hungriger als zuvor.“
Gottes Vertrauen in die Menschen – das sei, als ob Jesus nicht wie ein Türsteher vor dem angesagtesten Club der Stadt arrogant an den Leuten herunterschaue. „Jesus ist der Türsteher, der weiß, wie es ist, als letzter bei den Bundesjugendspielen durchs Ziel zu gehen und wieder keine Siegerurkunde zu bekommen. Er kennt das in uns, was wir lieber verstecken wollen“, sagt Bils. „Er kennt den Jungen, der allein auf dem Schulhof steht; das Mädchen, das von ‚Germany’s Next Topmodel’ träumt und sich immer zu dick fühlt; der Anzugtyp, der alles zusagt, immer atemlos und es dann nicht einhält, weil er kurz vor dem Burn-Out steht.“
„Wir gehören zu Jesus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der sich mit Prostituierten, Steuerbetrügern und Aussätzigen umgab“, sagt sie. „Der ihnen zuhörte, sie tröstete und heilte. Er liebte sie, mit einer Liebe, die so viel stärker ist als der Tod.“ Dann zitiert sie Jesus in Matthäus 25,40: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Bils schlussfolgert: „Dann ist für uns Lebenretten kein Verbrechen, sondern Christenpflicht. Man lässt keinen Menschen ertrinken! Punkt!“ Für Christen sei die Zeit in dieser Welt ganz und gar nicht vorbei, denn sie würden gebraucht – mehr denn je.
„Mit Augen unserer Herzen das Elend der Welt gesehen“
Der Kirchentagspräsident Hans Leyendecker bedankte sich am Sonntag bei den vielen Helfern und der Veranstaltungsstadt: „Dortmund kann Kirchentag!“ Für ihn war nach den fünf Tagen klar: „Wir haben mit den Augen unserer Herzen das Elend in dieser Welt gesehen. Wir haben uns über Ungerechtigkeiten empört. Wir haben Lösungen diskutiert und Wege gesucht. Klar ist: wir müssen handeln! Haltung zeigen! Mut haben! Uns was trauen!“
Bei seiner kritischen Anmerkung gegenüber der europäischen Politik griff er beim Abschlussgottesdienst auf das Bild des Statthalters Pontius Pilatus zurück. „Nur zusammen und mit Gottvertrauen können wir eintreten für Menschenwürde. Pilatus wusch sich die Hände in Unschuld. Europäische Politikerinnen und Politiker waschen sie in dem Wasser, in dem Flüchtlinge ertrinken“, sagte Leyendecker. Gleichzeitig betonte er aber auch die vielen guten Nachrichten, die es auf dem Kirchentag zuhören gab – von Menschen, die sich kümmern. Er forderte die Menschen auf, sich mit Vertrauen den Spaltern und Hetzern in der Gesellschaft entgegenzustellen.
Der Abschlussgottesdienst wurde auch im Westfalenpark auf der Seebühne übertragen, wo weitere 5.000 Menschen dem Live-Stream zuschauten.
Ökumenischer Kirchentag 2021 in Frankfurt am Main
Der Deutsche Evangelische Kirchentag in Dortmund hatte 121.000 Teilnehmer. Vom 19. bis 23 Juni unter dem Motto „Was für ein Vertrauen“ (2. Könige 18,19) kamen 80.000 Dauerteilnehmer und 41.000 Tagesteilnehmer. An 223 Orten in der Stadt gab es fast 2.400 Veranstaltungen. Es kamen Besucher aus rund 70 Ländern. 2021 findet der 3. Ökumenische Kirchentag in Frankfurt am Main statt. Kirchentagspräsident Hans Leyendecker hatte symbolisch bereits einen riesigen Staffelstab am Samstag an den Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, übergeben.
Von: Michael Müller