Harald Dreßing fordert in einem Interview, dass Bischöfe und Führungskräfte Verantwortung für den sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche übernehmen sollen. „Neben einer strafrechtlichen Schuld gibt es die persönliche Verantwortung, die letztlich jeder mit sich selbst ausmachen muss“, sagte Dreßing in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom Montag. Darin zeigte sich der Psychiater erstaunt darüber, dass nach der Veröffentlichung der Studienergebnisse zwar „viel von Scham und Schuld“ gesprochen worden sei, aber nicht von „konkreter und persönlicher“ Verantwortung. „Eine solche persönliche Verantwortung könnte sich wie in Politik und Wirtschaft zum Beispiel in einem Rücktritt äußern“, sagte Dreßing.
Dreßing war als Forensischer Psychiater Leiter der Forschergruppe, die im Herbst 2018 die Studie zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht hatte. In der sogenannten MHG-Studie legten die Forscher offen, dass mindestens 3.677 in der Regel männliche Minderjährige von katholischen Klerikern missbraucht worden sind. Der Studie zufolge begünstigt die Struktur der Katholischen Kirche den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.
Betroffene „auf Augenhöhe“ einbeziehen
Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Studie zeigte sich Dreßing unzufrieden über die Aufarbeitung des Missbrauchs. Seiner Ansicht nach bestünden die Strukturen, die den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begünstigt haben, „grundsätzlich“ noch immer. Dreßing kann bei den katholischen Bischöfen „keine gemeinsame Strategie erkennen, weitere Forschungsarbeiten in Gang zu setzen“. Die Forscher der MHG-Studie hatten in ihrem Abschlussbericht geschrieben, dass die vorgelegten Ergebnisse „der Auftakt für weitere Studien“ sein sollten.
Dreßing zeigte Verständnis für die Bemühungen einzelner Bischöfe zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Wegen „unterschiedlicher Methodik und Zielsetzungen“ seien diese allerdings „eher nicht hilfreich“. Seiner Meinung nach muss die Aufarbeitung nach „einheitlichen Standards“ und „auf Augenhöhe“ mit den Betroffenen erfolgen. Dreßing empfiehlt dazu eine interdisziplinär besetzte Kommission. Darin sollen Betroffene, Wissenschaftler, Kirchenleute und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten.
Missbrauch in Institutionen lässt sich nach Angabe Dreßings „nie völlig vermeiden“, jedoch könnten „spezifische Risikokonstellationen“ verändert werden. Etwa durch „die Beschränkung der klerikalen Macht, eine Reform der Sexualmoral, die wissenschaftliche Erkenntnisse ausblendet“, und die „Abschaffung des Pflichtzölibats“.
Von: Norbert Schäfer