„Vergebung ist ein Kind der Freiheit“

„Wie geht Vergebung?“ Dieser Frage ist der Sozialjournalist Andreas Unger auf den Grund gegangen. In dem Buch „Vergebung. Eine Spurensuche“ dokumentiert er seine Gespräche mit Menschen, die vom Thema unmittelbar betroffen sind, untermalt mit Fragen, die er sich selbst stellt – und auch dem Leser. Eine Rezension von Henriette Stach
Von PRO
„Vergebung ist ein Kind der Freiheit.“ Wie Andreas Unger zu diesem Schluss kommt, erklärt sein Buch „Vergebung. Eine Spurensuche“.

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ An diesen Worten aus dem Vaterunser nimmt der Christ eines Morgens in der Kirche plötzlich Anstoß. Was Vergebung angeht, beschreibt Unger sich selbst als Außenstehenden. Er sei noch nie großartig mit dem Thema konfrontiert worden. Er beginnt, sich zu fragen, was Vergebung eigentlich bedeutet, und macht sich auf die Suche nach Antworten. Dabei gelingt es ihm, objektiv und unvoreingenommen vorzugehen. Seine Reise führt ihn durch Deutschland, Israel, Polen und die USA. Dort trifft er jeweils beeindruckende Menschen, die auf ihre ganz eigene Weise mit Vergebung umgehen.

Auf der Suche nach Antworten

Die Mutter eines Amoklauf-Opfers muss sich erst mit dem Profil des Täters auseinandersetzen, um zu begreifen: Für sie ist Verzeihen „ein Nebeneffekt des Verstehens“. Ganz anders geht es da zum Beispiel einem Saxophonspieler, der seit einem Unfall von Gedächtnisverlust und Behinderung gezeichnet ist. Er akzeptiere sein Schicksal, ohne dem Unfallverursacher gegenüber Wut zu hegen, und wolle sich auch nicht mit diesem auseinandersetzen, wie er im Gespräch erklärt. Die jüdische Auschwitz-Überlebende Eva Kor wiederum vergibt all ihren Peinigern, den Nazis, bedingungslos und befreit sich dadurch aus ihrer Opferrolle – eine bewegende Geschichte, die im Buch zu Recht viel Platz einnimmt.

Verstehen, Akzeptanz, Befreiung – all das und vieles mehr spielt in Vergebung mit hinein. Bald merkt Unger, wie umfangreich das Thema tatsächlich ist. „Verzeihen oder Vergeben hat sehr viele verschiedene Facetten. Aber diese Vielschichtigkeit hat sich erst im Laufe der Recherche herausgestellt. Denn die Fälle der Protagonisten und auch die Antworten, die die Menschen für sich selber gefunden haben, lassen sich nicht über eine Leiste scheren“, erklärt der Münchener Journalist in einem Interview des Literaturportals Bayern.

Sprachliche Stolpersteine

Während der Leser Unger auf seiner Suche nach Antworten begleitet, legt dieser ihm ab und zu kleine Stolpersteine in den Weg. Wer über einige Tipp- und Rechtschreibfehler, wie die „Freunding“, noch hinweglesen kann, hat es durch auffallend viele Wortdopplungen schon deutlich schwerer. Aussagen wie „Ich bin ich“ oder „und auf wartet auf Einlass“ lassen den Lesefluss stocken. Zahlreiche Grammatikfehler verstärken diesen Effekt noch. So entdeckt Gisela Meyer bei der Ergründung des Mörders ihrer Tochter „sein zutiefst verletzte Seele“, Martina erfährt mit 14 von ihrer Adoption durch „eine Dokumentenmappe, auf dessen Deckblatt“ nicht ihr gewohnter Nachname steht und Eva Kor „zieht mit ihren Mann“ nach Indiana.

Die kleinen Fehler ziehen sich durch das ganze Buch und häufen sich auf dessen 185 Seiten merklich. Wer durch sie noch nicht irritiert ist, wird spätestens durch die teilweise uneinheitliche Schreibweise von Namen aus dem Konzept gebracht. Der Amokläufer Tim K. etwa wird im Verlauf des Buchs zu „Timm K.“, der palästinensische Herr Khatib heißt zwischendurch „Katib“ und bei der vorgestellten „Martian Frason“ ist im Folgenden von „Martina“ die Rede.

Auch inhaltliche Unstimmigkeiten lassen den Leser stutzen. Bei Khatibs getötetem Sohn ist zum Beispiel erst die Rede von einem Kopfschuss und später von einem Schuss in die Brust. Eva Kor wurde, wie es zuerst heißt, mit zehn Jahren nach Auschwitz gebracht, ihre Zwillingsschwester ist zum gleichen Zeitpunkt jedoch elf Jahre alt.

Auf den 185 Seiten des Buchs finden sich zahlreiche sprachliche Stolpersteine. Trotzdem beeindruckt es durch seinen Inhalt. Foto: Herder Verlag
Auf den 185 Seiten des Buchs finden sich zahlreiche sprachliche Stolpersteine. Trotzdem beeindruckt es durch seinen Inhalt.

Dennoch: Bewegende Geschichten

Wer über diese Formfehler jedoch hinwegsehen kann, erhält die Chance, sich von den zutiefst berührenden und teilweise erschütternden Geschichten bewegen zu lassen. Im Wesentlichen hat Unger mit neun Protagonisten über ihre Schicksale gesprochen. Im Buch schildert er die Aussagen der Menschen „so ausführlich, dass diese das Gefühl haben, von mir richtig verstanden und auch richtig wiedergegeben worden zu sein“. Die Hintergründe werden also umfangreich erzählt, was auch notwendig ist, um die Beweggründe des vergebenden Handelns zu begreifen. „Ich will verstehen, was da verziehen worden ist, will den Startpunkt des Wegs nachvollziehen können“, schreibt Unger. Ansonsten würdige man lediglich einige große Gesten und ziehe dann weiter.

Während er nach diesem Prinzip die Aussagen seiner Gesprächspartner aufführt, hält er die Sprache in einem sachlich-journalistischen Jargon. Neutral, professionell informierend und teils durch Zitate, teils durch indirekte Rede gibt er das Gesagte wieder. Bei seinen eigenen, die Berichte stets begleitenden Überlegungen verfällt er hingegen oft in einen umgänglicheren Ton. Angesichts der heftigen Gefühle, die er häufig stellvertretend für die Betroffenen äußert, ist dies auch angebracht. „Sie hat dich in die Welt gesetzt, verdammt nochmal“, richtet er zum Beispiel seine Wut über die Abweisung von Martinas leiblicher Mutter an den Leser, während Martina selbst ihre Dankbarkeit darüber bekundigt, nicht bei der kaltherzigen Frau aufgewachsen zu sein. Durch Aussagen wie diese bringt Unger seine eigene Unbegreiflichkeit der Vergebung dem Leser auf eine gelungene Weise nah. Man kann ihm gut folgen und versteht, was ihn zur weiteren Recherche antreibt.

„Nur Gott kann vergeben.“

Im Laufe der Erzählungen vervielfältigen sich die Fragen im Zusammenhang mit Vergebung immer weiter, „wie das so ist in guten Gesprächen“. Gegen Ende kommt das Buch mit rein menschlichen Antworten nicht mehr aus und stellt, quasi als Höhepunkt, die Frage nach Gottes Rolle in dem komplexen Gebilde der Verzeihung.

Mehr als einmal stößt der Journalist dabei auf die Auffassung: „Nur Gott kann vergeben.“ Eine israelische Witwe, deren Mann bei einem Selbstmordattentat getötet wurde, schlägt etwa vor, der Mensch könne sich nur „versöhnen“, während Vergebung allein bei Gott liege. Maria Hiller, die mit 22 Jahren ein ungeplantes Kind abtreiben ließ, berichtet indessen, wie sie nach jahrelanger Verdrängung schließlich Vergebung durch Gott erfuhr und dass sie sich selbst mit seiner Hilfe immer wieder neu vergeben muss.

Das Buch, das sich wie eine Mischung aus einer Geschichtensammlung und einem persönlichen Bericht liest, bedürfte formell zwar noch einiger Überarbeitung, sein Inhalt ist jedoch fesselnd genug, um diese Tatsache meistens in den Hintergrund zu drängen. Unger hält sich stets an seine zentrale Frage „Wie geht Vergebung?“, die den Leser als roter Faden hindurchbegleitet. Dabei heuchelt er kein Allwissen vor, fragt auf authentische Weise nach und lässt Dinge stehen, die er nicht weiter erklären kann, ohne Gründe für sie zu erfinden. Er schafft es, zugleich eine reflektierte Distanz zu bewahren und trotzdem seine persönlichen Gedanken und Gefühle durchblicken zu lassen.

Wer in dem Werk nach Antworten sucht, wird jedoch kaum fündig werden. Vielmehr verschafft es einen vertiefenden Eindruck der Fragestellung. Das ist auch gut so, denn es handelt sich, wie die unterschiedlichen Perspektiven zeigen, um ein sehr privates Thema, das nicht universell zu beantworten ist. Zu diesem Fazit gelangt auch Unger, indem er abschließend schreibt: „Vergebung ist ein Kind der Freiheit.“ Das Buch wurde von der Website „Der Freitag. Das Meinungsmedium“ bereits zum „Buch der Woche“ gekürt.

Andreas Unger, geboren 1977, absolvierte neben seinen Studienabschlüssen in Diplom-Journalistik in München und Internationale Beziehungen in Washington D.C. die Deutsche Journalistenschule. Für seine Beiträge in Printmedien und Fernsehen erhielt er bereits zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Journalistenpreis des Weißen Rings und die Auszeichnung „Journalistisch Wertvoll“ der Deutschen Bischofskonferenz (DBK).

Andreas Unger: „Vergebung. Eine Spurensuche“, Herder, 185 Seiten, 20 Euro, ISBN: 9783451376641

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