In seinem Buch „Warum der Antisemitismus uns alle bedroht“ beschreibt der Religionswissenschaftler Michael Blume Antisemitismus als ein System verschiedener Verschwörungsmythen – Blume spricht bewusst nicht von Theorien –, die sich gegen alles Jüdische und Israelische richten. Denen stellt er den Semitismus in der Person von Sem entgegen. Auf den Nachkommen Noahs, der nach biblischer Darstellung als der Stammvater Abrahams, Isaaks und Ismaels gilt, kann nach Blumes Einschätzung die Entstehung der semitischen Schriftreligionen zurückgeführt werden – also Judentum, Christentum, Islam und Bahaitum. Mit Sem verbunden werde in der jüdischen Überlieferung auch die Erfindung des Alphabetes und das erste Lehrhaus. Mit ihm beginne nach der jüdischen Überlieferung also die Verschriftung von Religion und Recht. Anti-Semitismus, das ist die These Blumes, will alles Semitische aus der Welt drängen. Zuerst die Juden, weil die den „Semitismus in die Welt gebracht haben: die Alphabetisierung von Religion und Recht und damit die Grundlage unserer längst globalen Zivilisation.“
pro: Was wissen wir über Antisemiten heute?
Michael Blume: Ich kann für Baden-Württemberg sagen: Es steigt nicht die Zahl der Antisemiten, sondern die Menschen, die antisemitisch eingestellt sind, radikalisieren sich. Die werden lauter, werden radikaler. Der Hass aus dem Internet kippt auf die Straße. Antisemitische Hasstaten nehmen deutlich zu.
Nun hat die Bundesregierung erst seit vergangenem Jahr einen Antisemitismusbeauftragten. Warum hat es so lange gedauert?
Nach dem Krieg hat die Auffassung vorgeherrscht, dass der Antisemitismus absterben würde. Dass nach der Schoah eigentlich kein vernünftiger Mensch mehr diesen Verschwörungsmythen anhängen könnte. Womit man nicht gerechnet hat, war das Internet. Wir kennen linken, rechten und religiösen Antisemitismus. Letzteren vor allem unter Muslimen. Aber er kann auch stark christlich-fundamentalistisch geprägt sein, in Polen zum Beispiel. Antisemitismus verschwindet nicht. Im Gegenteil, er kehrt wieder.
Warum geht Antisemitismus alle an?
Antisemiten wenden sich immer gegen Juden, aber darüber hinaus gegen jede Form von Schriftreligion und gegen den Rechtsstaat. Sie beschuldigen immer andere Gruppen, Teil der jüdischen Verschwörung zu sein, zum Beispiel die Roma und Sinti im NS-Deutschland oder heute die Jesiden im Irak. Wer also meint, er müsste nur den Juden zuliebe gegen den Antisemitismus sein, der unterschätzt die Gefahr. Wir müssten den Antisemitismus selbst dann bekämpfen, wenn es gar keine jüdischen Gemeinden bei uns gäbe.
Wo sollen wir dem Hass begegnen? Auf der Straße oder im Internet?
In der ganzen Breite. Die Verschwörungsmythen waren nie weg. Sie waren nur verborgen, aber sie haben weitergeschwelt und jetzt können die Leute, die eine antisemitische Einstellung haben, sich im Internet in Blasen zurückziehen und sich da gegenseitig anfeuern. Das sehen wir auf YouTube, das sehen wir auf Facebook, auch auf WhatsApp ganz stark. Das gibt es in Schulen, sogar in Polizeirevieren. Ein Ansatz dagegen muss bei der Bildung beginnen. In der Schule, bei Kindern, in Gedenkarbeit, im Religionsunterricht.
Im Internet sind es vorwiegend die jungen Leute …
Wir haben auch ein großes Problem mit der sogenannten Altersradikalisierung. Die Reichsbürgerbewegung zum Beispiel sagt, die ganze Bundesrepublik existiert eigentlich nicht, sondern ist nur eine Verschwörung. Das sind überwiegend Männer über 50.
Wen sehen Sie in erster Linie in der Verantwortung, wenn es um das Gegenhalten gegen Antisemitismus in den neuen Medien geht?
In erster Verantwortung die Digitalkonzerne. Die finanzieren sich mit Werbung. Facebook und YouTube zum Beispiel haben viel zu wenig Verantwortung übernommen für die Inhalte. Und das Prinzip „Angry People klick more“ – wütende Nutzer klicken mehr – hat die diesen Konzernen Milliarden beschert. Dass sich Wut und Hass schneller verbreiten als positive Lehren, spielt den Diensteanbietern in die Hände. Dann ist auch der Gesetzgeber gefragt und schließlich wir alle: Welche Inhalte verbreite ich? Wie bilde ich mich? Setze ich mich damit auseinander? Da sehe ich natürlich auch uns als Christen in einer Verantwortung, weil wir überhaupt noch ein Gefühl für die Bedeutung von Mythen haben und für die Bedeutung von Religion. Das berührt den Kernbereich unseres Glaubens. Wer Juden verachtet, liebt Jesus nicht.
Was verlangen Sie von den Diensteanbietern?
Kanäle, die wirklich Hass-Kanäle sind, auszuschließen, Hasspredigern die Dienste nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Die Verantwortung auf die Kunden abzuwälzen mit der Empfehlung, dagegen zu halten, geht gar nicht. Damit belohnen wir die Antisemiten noch mit Aufmerksamkeit. Das halte ich für falsch. Also ganz klar: Löschen, blockieren, löschen.
Was verlangen Sie von den Regierungen?
Schärfere Gesetze gegen Hass-Kriminalität. Auch im Netz. Das Netz ist kein rechtsfreier Raum. Ich möchte, dass in den Staatsanwaltschaften Beauftragte das Thema Antisemitismus in den Blick nehmen. Ganz konkret jetzt die Partei „Die Rechte“, die hier in Baden-Württemberg plakatiert: „Israel ist unser Unglück“. Das ist ein direktes Zitat von „Die Juden sind unser Unglück“! Die Antisemiten wollen, dass die Plakate im Internet weiterdiskutiert werden, und nutzen das, um massenhaft Menschen zu erreichen.
Wie nehmen Sie den Europawahlkampf in der Hinsicht wahr?
Wir haben bei der Europawahl keine Fünf-Prozent-Hürde. Auch kleine Parteien brauchen verhältnismäßig wenige Stimmen, um ins EU-Parlament und an Wahlkampfkostenerstattung zu kommen. Rechtsextreme Parteien fachen dafür ganz gezielt den Antisemitismus an. Sie wollen, dass man sich darüber empört, aufregt und ihnen damit Aufmerksamkeit schenkt. Damit hoffen sie, Wählerstimmen und Geld zu verdienen. So belohnt das Internet den Hass. Wenn wir das nicht stoppen, haben wir aus der Geschichte nichts gelernt. Auch die Nazis haben die neuen Medien ihrer Zeit, Radio und Film, benutzt, um die Demokratie zu zerstören.
In welcher Verantwortung sehen Sie die Presse, wenn wir mit Parolen konfrontiert werden wie „Israel ist unser Unglück“?
Ich glaube, dass diese Leute versuchen, Medien zu triggern. Das heißt durch Berichterstattung dann wiederum diese Parteien bekannter zu machen. Auf der anderen Seite aber haben Medien ja auch eine Berichtspflicht. Da wäre meine Bitte an Journalisten, deutlich zu machen: Wir berichten darüber und wir machen klar, wer die Verantwortung trägt. Und in dem Fall sind es eben die Digitalkonzerne und der deutsche Rechtsstaat. Solche Plakate haben auf deutschen Straßen im 21. Jahrhundert nichts verloren. Und Juristen aus dem Bundesinnenministerium haben auch einen Weg gefunden, nach dem Kommunen im Sinne der Gefahrenabwehr diese Plakate abnehmen dürfen. Ich rufe daher alle Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg auf, Plakate mit „Israel ist unser Unglück“ und „Wir hängen nicht nur Plakate auf“ zu entfernen. Treten wir den Antisemiten mutig entgegen!
Welche Verantwortung verlangen Sie von Christen angesichts solcher Parteislogans?
Auch Kirchen haben meines Erachtens den Auftrag, Solidarität zu zeigen. Und in dieser Situation brauchen die jüdischen Gemeinden die Solidarität der Christen. Und Christen, die bei der Europawahl für die Demokratie abstimmen!
Am vergangenen Wochenende wurde Israel mit einem Hagel von Raketen aus dem Gazastreifen überzogen. Eine Form des Antisemitismus ist die latente Kritik am Staat Israel. Wie nehmen Sie aktuell die Berichterstattung über die Ereignisse in Israel wahr?
Die Angriffe gingen allein von der Hamas aus. Wenn ich dann in deutschen Medien lesen muss: „Israel tötet Zivilisten“, ist das eine furchtbare Umkehrung von Ursache und Wirkung.
Israel verteidigt sich also?
Selbstverständlich verteidigt sich Israel. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was in Deutschland los wäre, wenn hier ein benachbartes Land Raketen in die Bundesrepublik schießen würde. Ich nehme wahr, dass die Berichterstattung hier häufig in die Richtung geht, dass Israel der Überlegene sei und gefälligst Rücksicht nehmen solle auf die armen Palästinenser. Dabei versteht man überhaupt nicht, dass die Hamas Geld für Raketen statt Bildung einsetzt und die eigene Bevölkerung mit Gewalt und Folter unterdrückt. Man kann natürlich kritisieren, dass es eine rechtsgerichtete Regierung in Israel geben wird, aber die ist immerhin gewählt worden. Davon können die Palästinenser heute nur mehr träumen. Die Berichterstattung in deutschen Medien hat leider immer noch eine anti-israelische Schlagseite.
Wie nehmen Sie hier die Sensibilität der Medien hinsichtlich Antisemitismus wahr?
Die Lokalzeitungen sehen das Problem. Zum Teil auch in der Form, dass Journalisten, wenn sie über Antisemitismus berichten, selber in den Fokus von Antisemiten geraten. Überregionale große Zeitungen sind häufiger noch der Auffassung, sie wüssten selber alles und bräuchten niemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Bei einer solchen, großen Zeitung musste ich einen Bericht zurückziehen, weil ich darin Israel positiv erwähnt habe. Das wollte sie nicht veröffentlichen.
Sie sagen, dass Antisemitismus die Grundfesten unserer Ordnung attackiert.
Ich würde tatsächlich sagen: Antisemitismus richtet sich immer gegen unsere Grundordnung. Schon allein deswegen, weil ein Antisemit die Vorstellung in Abrede stellt, dass alle Menschen gleich sind – das ist ja der Noah-Bund, wir sind alle Kinder Noahs. Das heißt, der Antisemitismus richtet sich buchstäblich gegen die Wurzeln unseres Rechtsstaats. Ich wünsche mir gerade von Christen, aber auch von Muslimen und Humanisten, dass sie die Noah-Geschichte als diese Wurzel erkennen, dass da Gott selber in der biblischen Überlieferung aufhört, ein absoluter Herrscher zu sein. Er bindet sich an einen Bund. Er setzt sich sozusagen selber eine Verfassung und erinnert sich durch den Regenbogen daran. Antisemiten greifen immer Juden an, doch am Ende bedrohen sie uns alle!
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Norbert Schäfer