Dick Cheney hatte im Lauf seines Lebens fünf Herzinfarkte. Drei erleben Zuschauer von „Vice – Der zweite Mann“, der am 21. Februar offizell in Deutschland anläuft, mit. Einer der mächtigsten Männer der Welt liegt später auf dem OP-Tisch und muss sich einer Herztransplantation unterziehen. Die Kamera fängt das alles ein und blendet immer wieder zu Szenen aus dem Irakkrieg, Bildern von Terroranschlägen und wütenden Islamisten. Zwischendurch sehen Kinobesucher: Cheneys leeren Brustkorb, in den als nächstes das Spenderherz eingesetzt wird. Die Botschaft ist klar. Es ist dieser Mann ohne Herz, der den Irakkrieg verursacht und daher auch schuld ist an massenhaften Terroranschlägen, Suiziden im US-Militär und gefallenen Soldaten. Dieser Mann allein. Ein Teufel, der nun auch noch leben darf, weil ein armer Jogger vor ein Auto gelaufen ist und ihm sein Herz schenkt.
„Vice“ läuft auf der diesjährigen Berlinale außer Konkurrenz. Am Montagabend feierte er in Anwesenheit des Regisseurs Adam McKay und des Hauptdarstellers Christian Bale Deutschlandpremiere. Im regulären Kinoprogramm ist er ab dem 21. Februar zu sehen. Allein die oben beschriebene Szene verrät schon ziemlich viel über den Film, der weniger ein Porträt Dick Cheneys ist, sondern eine bitterböse und tiefschwarze Politsatire. So schwarz, dass einem das Lachen zuweilen im Halse stecken bleibt und man sich immer wieder fragt: Kann ein Mann wirklich so niederträchtig sein? Die Antwort lautet wahrscheinlich nein. Ist es fair, den schlechten Gesundheitszustand eines Mannes gegen ihn zu verwenden? Eher nicht. Dennoch muss man den Machern zugestehen, dass sie fleißig Fakten zusammengetragen haben und die Kritik an Cheney durchaus Hand und Fuß hat. Und das, obwohl Cheney öffentlich wenig von sich Preis gibt.
Vom Raufbold zum Polit-Profi
Cheney, verblüffend authentisch gespielt von Bale, war einst ein Rauf- und Trunkenblod, aufgewachsen in der amerikanischen Provinz, ein Fan von Cowboy-Romantik bis heute. Auf Drängen seiner Frau ändert er sein Leben, wird Praktikant beim späteren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, lernt das politische Taktieren und wird schließlich – nach mehreren Auflügen in die Privatwirtschaft – Vizepräsident unter George W. Bush. Unter diesen beiden Männern marschieren die USA gemeinsam mit Großbritannien 2003 völkerrechtswidrig in den Irak ein. Unter diesen beiden Männern foltern amerikanische Geheimdienste Terrorverdächtige. Unter diesen beiden Männern nimmt die Suizidrate beim amerikanischen Militär massiv zu. Unter diesen beiden Männern sterben tausende amerikanische Soldaten im Krieg gegen den Terror.
Das alles stimmt und ist dramatisch, doch erzählt McKay nur eine Seite der Geschichte. An keiner Stelle des Films bekommt der Zuschauer ein Gefühl dafür, wie tiefgreifend und traumatisierend die Ereignisse des 11. September für die USA waren. Nie kommt zum Tragen, dass das ganze Land sich in einem Gemisch aus Chaos und Aktionismus neu aufzustellen versuchte. Natürlich musste das schwerwiegende Folgen haben und vieles davon ist im Nachhinein zu kritisieren. Aber fairerweise kann nicht alles dem Handeln eines Einzelnen angelastet werden.
Für McKay ist der ehemalige Vizepräsident ein Mann, der den Krieg im Irak aus eigenmächtigen Motiven und wirtschaftlichen Interessen heraus führte. Er ist einer, der nur deshalb Vize unter Bush wurde, weil er schon während der Kandidatur plante, heimlich das Weiße Haus zu unterwandern und selbst die Stripppen zu ziehen. Er ist ein Mann, der in letzter Konsequenz sogar seine eigene Tochter hintergeht, damit die politische Macht in der Familie erhalten bleibt.
Unklar bleibt bei alledem, wo der einstige Bauernlümmel sich derartige Gerissenheit angeeigent hat. Wann vollzog er den Schritt vom Cowboy zum finsteren Politiker à la Frank Underwood aus „House of Cards“? Offensichtlich ist jedenfalls, dass der Regisseur sich an der erfolgreichen Netflix-Serie orientierte – inklusive eines bitterbösen Rechtfertigungsmonologs direkt in die Kamera. Eine weitere Gemeinsamkeit: Der Humor in „Vice“ ist beißend und treffend, wenn auch an manchen Stellen grenzüberschreitend. Die Einblicke in die Taktierspiele amerikanischer Politik sind faszinierend.
George W. Bush – nur eine Marionette Cheneys?
Nicht nur Cheney, auch George W. Bush bekommt im Film sein Fett weg. „Vice“ zeigt den ehemaligen und im europäischen Raum damals stark kritisierten Präsidenten als Provinzcowboy, der aus dem Schatten seines berühmten Vaters treten will, intellektuell aber mit dem Amt überfordert ist und deshalb als Marionette Cheneys agiert. Einmal mehr fragt sich der Zuschauer, ob dieses Bild den Protagonisten gerecht wird – bei aller berechtigten Kritik.
Ein Thema, das McKay überraschenderweise nicht aufgreift, ist der Glaube Cheneys. Und das, obwohl die Frage der Religion in der US-Politik und besonders in der zweiten Bush-Administration eine große Rolle spielt. Von Bush selbst weiß man, dass er sich als wiedergeborenen Christen bezeichnet, Cheney äußert sich ebenfalls, wenn auch sparsam, zu seinem Glauben. Er kommt aus einer methodistischen und der Kirche zugewandten Familie. Seine Hochzeit fand in einer presbyterianischen Kirche statt und er selbst erklärte, er empfinde eine Nähe zu den Episkopalen. Über seine religiöse Erziehung sagte er einst: „Ich habe dadurch bestimmte Werte und Glaubensinhalte erhalten.“ Er glaube unter anderem an ein Leben nach dem Tod.
Angesichts des sonstigen Filminhalts kann man den Machern dankbar sein, dass sie die Glaubensfrage nicht stellen. Denn wie jeder Aspekt von Cheneys Leben würde wohl auch dieser dazu dienen, seine unterstellte Bösartigkeit und Gerissenheit zu untermauern. Vielleicht war es eine bewusste Entscheidung McKays, dieses Eisen im Feuer zu lassen. Wenn, dann spricht sie für ihn. Denn wenn Cheney der Mann ist, als der der Film ihn zeigt, dann hat er mit dem, was Christen unter Kirche verstehen, wohl wenig zu tun.
„Vice – Der zweite Mann“, Adam McKay, 2019, 132 Minuten
Von: Anna Lutz